Hau schon ab!
Das Davor und das Danach: Ein Junge trauert um seine Mutter
Wie schreiben über eines der unfassbarsten Ereignisse, die einem Menschen zustoßen können, den Tod eines Freundes oder Angehörigen? Gar der Mutter und dann noch aus der Perspektive des zurückbleibenden Kindes? Wie das ausdrücken, wofür sich jeder schwertut, Worte zu finden? Stefanie Höfler kann das, die beiden bisher erschienenen Bücher der 39-Jährigen gehören zum Stärksten, was in den letzten Jahren im deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuch zu lesen war. Glaubwürdig wie wenige andere findet sie mit großer Leichtigkeit und Humor Zugang zu Problemthemen.
Schon ihr Debüt, das Kinderbuch „Mein Sommer mit Mucks“, zeichnet sich durch eine feine Balance aus heftigem Thema – Gewalt in der Familie – und humorvoller Erzählweise aus. In ihrem zweiten Buch „Tanz der Tiefseequalle“, diesmal für Jugendliche geschrieben, geht es um eine Mobbing-Geschichte, in der Höfler in der Annäherung zwischen dem Klassen-Opfer und der Klassen-Schönheit äußerst sensibel die Gefühlswelt Heranwachsender ausleuchtet. Eine gelungene Mischung aus Nachdenklichkeit, Witz und Verrücktheit, originelle Ideen und fein gezeichnete Figuren machen die Höfler-Bücher zu einem echten Leseerlebnis.
Und nun also „Der große schwarze Vogel“, der mit dem LudwigHirsch-Zitat im Titel anklingen lässt, worum es geht: den Tod.
An einem strahlenden Oktobermorgen liegt Bens Mutter tot im Bett. „Sie konnten eure Ma nicht mehr zurückholen“, muss der Vater nach den vergeblichen Versuchen der Sanitäter Ben und seinem kleinen Bruder Krümel mitteilen. Aus der Perspektive des 14-jährigen Ben erfährt der Leser, wie Vater und Die Welt von Harry Potter ist aufregend – das spiegeln auch die Cover weltweit wider. Bei einem erfolgreichen Titel wie diesem müssten sich die Gestalter eigentlich gar nicht so ins Zeug legen, wird so oder so gekauft. Trotzdem feilten alle am Zauberlehrling, sodass es in der arabischen Welt (oben rechts) etwa einen anderen Harry Potter gibt als in Schottland (oben links), Deutschland (daneben) oder Polen (unten links). Söhne unterschiedlich mit dem Verlust und der Trauer umgehen. Alles erinnert noch an die Mutter, einzelne rote Haare auf dem Teppich, die zu Kugeln zerknüllten Zeitungsseiten im Wohnzimmer, der Geruch ihres Parfüms, Billie Holidays Musik, die der Vater immer wieder abspielt. Der ist unfähig, seinen beiden Söhnen Halt zu geben: „Das NieMehr wurde greifbar, weil Pa so war, wie er war. Gebeugt, zerschmettert, vernichtet“, stellt Ben fest. Der sechsjährige Krümel praktiziert eine ganz eigene Art der Trauerbewältigung und schleicht sich in die Friedhofshalle, um den Sarg bunt anzumalen. Denn das hätte seine Mutter schön gefunden.
Für Ben zerreißt der Tod seiner Mutter das Leben in ein Davor und ein Danach. In die Erinnerungen an die Frau, die ganz oben im Baum saß und die Kastanien nach unten warf, die den Wald, die Pflanzen und die Tiere liebte und ihren Kindern die Natur nahebrachte; die aber auch aufbrausend und wütend sein konnte und dann ungerecht wurde. Das Danach ist die Gegenwart, die Leere, das Noch-nicht-begreifen-Können, die Rückkehr in die Schule. Wie soll Ben über seinen Verlust reden, wie behandeln ihn die Klassenkameraden, wie der beste Freund Janus? Und wie kann er endlich loslassen? Immer wieder sieht Ben die Gestalt der Mutter als Erscheinung, aber am Ende kann er sie mit Worten wegschicken, die sie zu ihm gesagt hatte, wenn er sich nicht verabschieden konnte: „Hau schon ab!“
Mit der geschickten Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart in abwechselnden Kapiteln glückt es Stefanie Höfler, den dunklen Grundton des Buches durch humorvolle und glückliche Szenen zu durchbrechen. Wärme, Liebe und Lachen gibt es in „Der große schwarze Vogel“ebenso wie Schmerz, Trauer und Tränen. Nichts dabei ist kitschig oder pathetisch, nichts banal oder übertrieben. Höfler überzeugt mit ihrer sprachlichen Kraft, berührt mit ihrem intensiven Ton, und man ist als Leser manchmal überwältigt davon, wie Höfler so einfühlsam und authentisch diese außerordentliche Gefühlsund Gedankenwelt zum Klingen bringen kann. „Ich bin schon durch schreckliche Zeiten gegangen und habe trotzdem gelacht“, beschreibt die Esslinger Autorin ihre Lebenseinstellung. In „Der große schwarze Vogel“findet sich diese optimistische Sicht auf das Leben auf jeder Seite.
Birgit Müller-Bardorff
Stefanie Höfler: Der große schwarze Vogel Beltz & Gelberg, 182 Seiten, 13,95 Euro
– ab 12 Jahre