Magische Zugfahrt
Langweilig wird es nie im „Welten-Express“
Carlsen, 384 Seiten, 14,99 Euro – ab 12 Jahre
Hatten wir das nicht schon? Ein Zug, der Schüler in ein ungewöhnliches Internat bringt und in dem magische Dinge geschehen? Bingo: Wer Harry Potter gelesen hat, kann in Anca Sturms Buch „Der Welten-Express“durchaus Parallelen entdecken. Auch hier geht es um besondere Kinder, skurrile Lehrer und um Ereignisse, die nicht mit rechten Dingen zugehen.
Aber Anca Sturms Buch ist eben auch anders, was schon daran liegt, dass der Zug selbst das Internat ist. Außerdem können ihn nur Menschen sehen, die auf dieser Welt später angeblich einmal eine besondere Rolle spielen werden. Aber stimmt das auch? Denn als Flinn Nachtigall eines Nachts aus Verzweiflung auf diesen Zug aufspringt, ist sie nichts anderes als ein gewöhnliches Mädchen, das sich in seiner Haut nicht wohlfühlt und ziemlich unglücklich ist mit seinen Lebensumständen. Wie sollte ein solcher Mensch mal eine wichtige Rolle spielen?
Vom ersten Kapitel an macht es Spaß, sich mit Flinn in dieses Abenteuer hineinzuwagen. Fragen über Fragen tauchen auf: Was hat es mit dem geisterhaften Tiger auf sich, der Flinn immer wieder begegnet, der aber offenbar nur ihr auffällt? Warum wird sie als blinder Passagier vom Schuldirektor akzeptiert, obwohl eine Lehrerin sie um jeden Preis loshaben möchte? Und was hat dieser Zug mit ihrem Bruder Jonte zu tun, der vor einigen Monaten einfach so verschwand und nie mehr wieder auftauchte?
Anca Sturm hat ihre Hauptpersonen mit großer Liebe zum Detail entwickelt. Es sind Menschen mit Eigenheiten, Ticks und Stärken – keine Kunstfiguren also, sondern Typen, mit denen man sich identifizieren kann. So bestehen Sturms Charaktere auch bis zum Ende der Geschichte – sie verblassen nicht und werden nie langweilig.
Für die Geschichte gilt das ebenso, denn sie ist vor allem eines: geheimnisvoll. Die Leser begeben sich mit Flinn auf die atemlose Suche nach ihrem Bruder. Ist er je auf diesen Zug aufgestiegen? Ist er dort verschwunden, wie offenbar auch einige andere Passagiere? Und, wenn ja: Wo um Himmels willen ist er jetzt?
Dann ist dieser „Welten-Express“auch ein Mutmacher für alle Kinder und Jugendlichen, die sich ihrer selbst nicht sicher sind. Soll ja mal vorkommen in diesem Alter. Anca Sturm gibt ihren Lesern Zuversicht: Auch wenn du anders bist als viele andere, bist du nicht seltsam. Selbst wenn du an dir zweifelst, kannst du doch Freunde finden. Denn eben diese Erfahrung macht Flinn an Bord des Zuges: Sie ist plötzlich keine Außenseiterin mehr, sondern Teil einer Gruppe , die sich gegenseitig trägt und hilft.
Wie auch in Joanne K. Rowlings Potter-Büchern sind es die vielen fantasievollen Einzelheiten, die den „Welten-Express“zu einem kleinen literarischen Kunstwerk machen: Alle Kinder an Bord kommen aus anderen Ländern und können sich – der Magie sei Dank – doch verständigen. Überhaupt spielt die Magie eine große Rolle im Buch, ist jedoch Fluch und Segen zugleich. Und natürlich gibt es auch im Zug rivalisierende Jugendliche, deren Absichten nicht immer lauter sind.
Autorin Anca Sturm ist übrigens gerade mal 27 Jahre alt und hat sich entschlossen, nicht in ihrem Brotberuf als Buchhändlerin zu arbeiten, sondern sich ganz dem Schreiben zu widmen. Der „Welten-Express“ist ihr Romandebüt – eines, das durchaus neugierig auf mehr macht.
Wie so viele Fantasy-Autoren erlag übrigens auch sie dem Hang zur Fortsetzung. Und so wird „Der Welten-Express“irgendwann einen zweiten Band hinzugefügt bekommen. Hier allerdings gibt’s nun doch noch einen Unterschied zu Harry Potter: Anca Sturm will es bei einer Trilogie belassen.
Nicole Prestle