Pflegenotstand
Patienten sind verunsichert
Es ist morgens kurz nach 7 Uhr und Christina Gastl wechselt die erste Windel. Mit einem Waschlappen macht sie die Seniorin sauber. Zuvor hat die 24-Jährige zwei andere Klientinnen versorgt. Gastl arbeitet im Ambulanten Pflegedienst des Sozialzentrums Hammerschmiede der Arbeiterwohlfahrt. Die junge Frau mag ihren Job. Das ist Glück für ihren Arbeitgeber, denn es wird zunehmend schwerer, Pflegekräfte zu finden.
„Wir haben einen absoluten Pflegenotstand“, sagt Eckard Rasehorn, Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Augsburg mit Nachdruck. Sein Betrieb könne sich im Moment noch halbwegs behelfen. Die AWO bilde derzeit 60 Menschen aus, nur noch die Hälfte davon komme aus Deutschland. Insgesamt sei die Situation im ambulanten Dienst in Augsburg aber sehr kritisch, meint Rasehorn. „Teilweise wird überlegt, ob Patienten noch aufgenommen werden können.“
Eine, die am Pflegefachkraftmangel stark zu knabbern hat, ist etwa Christine Deschler. Sie betreibt einen privaten Pflegedienst in Augsburg. Seit 36 Jahren arbeitet sie in der Pflege. Stünde Deschler heute noch einmal vor der Berufswahl, würde sie sich wohl für einen anderen Job entscheiden, sagt die 52-Jährige. Dabei empfindet sie ihren Beruf als Berufung. Er macht ihr Spaß. „Aber die bürokratischen Umstände und die Unsicherheit der Planung bedingt durch den Gesetzgeber zehren an der Substanz.“
Deschler hat ein akutes Problem, Pflegekräfte zu finden. Manchmal, sagt sie, bete sie, dass Mitarbeiter nach deren Zusage nicht mehr in letzter Minute abgeworben werden. So wie neulich: Der junge Mann hatte bereits seinen Arbeitsvertrag unterschrieben. Eingekleidet war er auch schon. „Einen Tag vor seinem Arbeitsbeginn rief er mich an und sagte ab. Er arbeite jetzt woanders.“So etwas lässt Deschler, die für ihren Pflegedienst schon Auszeichnungen erhalten hat, schier verzweifeln.
Inzwischen will die Unternehmerin nicht mehr alle Kunden annehmen. Sie will die Qualität bei den Bestandskunden halten und auch Neukunden gut versorgen. Auch will sie ihren langjährigen Mitarbeitern nicht zumuten, mehr Patienten zu versorgen, als sie körperlich und zeitlich leisten könnten. „Deshalb muss ich 50 Prozent der Anfragen absagen.“Sie empfinde das als ethisch und moralisch belastend. Vor allem, wenn sie sich in einen kranken Menschen hineinversetzt, der anrufe und Hilfe brauche, aus Kapazitätsgründen unter Umständen aber nicht versorgt werden könne. „Die Leute sind deshalb massiv verunsichert.“
In Bayern fehlen derzeit 12 000 Pflegekräfte, davon in Schwaben 1900, berichtet Stefan Jagel von der Gewerkschaft Verdi. Der Beruf sei nicht unattraktiver geworden. Im Gegenteil: „In der Pflege in Bayern werden derzeit so viele Menschen ausgebildet wie noch nie.“Das Problem sei ein anderes. Viele verlassen den Beruf wegen der enormen Arbeitsbelastung. „Solange diese in Krankenhäusern und in der Altenpflege nicht reduziert wird, flüchten Menschen weiterhin aus dem Job.“Selbst Fachkräfte aus dem Ausland tun dies nach ein paar Jahren.
Christina Gastl arbeitet gerne in der Pflege. Im Alter von 19 Jahren begann sie die Helfer-Ausbildung, machte weiter bis zur Fachpflegekraft. Seit einem Jahr ist die 24-Jährige ausgelernt. Der ambulante Dienst gefällt ihr besser als die Arbeit im Pflegeheim. „Man hat nicht ganz so schwere Pflegefälle. Die Menschen sind glücklicher, weil sie noch daheim sind.“Ob sie ihren Beruf bis zur Rente ausüben kann, frage sie sich manchmal schon.
„Es ist doch sehr anstrengend“, räumt Gastl ein, für die der Arbeitstag oft morgens um 6.15 Uhr beginnt. Auch sie spüre manchmal den Personalmangel. Etwa wenn sie abends als einzige Fachkraft unterwegs ist. Das sei dann ein „Gerenne“. In dieser angespannten Lage ist es für Pflegedienste nicht einfach, Schichtpläne zu erstellen. „Es gibt selten Kräfte, die Vollzeit arbeiten“, erklärt Eckard Rasehorn von der AWO. Auch die Bereitschaft, geteilte Dienste oder Schichtdienste zu übernehmen, schwinde. Man versuche zwar, dass die Mitarbeiter jedes zweite Wochenende frei haben. Aber sie müssten bereit sein einzuspringen, falls ein Kollege ausfällt.
Patienten ablehnen will man in dem Sinne bei der AWO bislang nicht. „Aber wenn etwa das Klinikum einen Patienten vermittelt, kann es schon heißen: Im Moment ist es schlecht. Probieren sie es woanders.“Früher, sagt Rasehorn, hätten ambulante Dienste um Patienten konkurriert. Heute hieße es: „Um Gottes willen, nicht noch jemanden.“Und wie ist die Situation bei der städtischen Altenhilfe, die über 802 Pflegeplätze verfügt?
Akut käme man noch nicht in Notlagen, sagt Sprecherin Daniela Frumert. Aber man suche jetzt ebenfalls im Ausland nach Personal – vorwiegend in Südosteuropa. Das Thema Ausbildung und Nachwuchsgewinnung habe bei der städtischen Altenhilfe höchste Priorität. Man habe für Mitarbeiter sogar eigene Wohnungen angemietet. Anfang November werden sie erstmals bezogen. Um Pflegekräfte wird überall gekämpft. Monica Rist, Bereichsleiterin bei ambulanten Pflegediensten der AWO, erzählt, dass sie nun sogar Mitarbeiter ohne Führerschein akzeptieren. „Wir haben vier Kollegen, die mit dem Rad zu den Patienten fahren.“So etwas sei früher undenkbar gewesen. Einer Kollegin aus Thailand habe man einen Kredit für den Führerschein gewährt.
Christina Gastl ist an diesem Morgen mit einem Dienstwagen der AWO unterwegs. Bei den Kunden bleibt sie jeweils ein paar Minuten. Waschen, Medikamentengabe, Kompressionsstrümpfe anziehen – das gehört zu den Aufgaben. Viel Zeit bleibt dafür nicht. Trotzdem ist es Gastl wichtig, den Menschen zuzuhören und auch bei kleinen Handgriffen zu helfen. „Seitdem ich in der Pflege arbeite, mache ich mir mehr Gedanken über das Altwerden. Wer weiß schon, wie es einem selbst mal geht.“»Kommentar