Friedberger Allgemeine

Zurück zum Urknall: Wie Forscher an den Anfang der Zeit reisen wollen

- Redaktion geändert)

Als hätten sie nicht schon genug Sorgen geplagt. Das Geld reichte schon lange nicht mehr. Schulden häuften sich an, und ihr Lebensgefä­hrte hatte sie, die Hochschwan­gere und ihren gemeinsame­n Sohn, sitzen lassen. Auf sich allein gestellt konnte die junge Frau ihren Beruf als Bürokauffr­au nicht mehr ausüben. Aber es kam noch schlimmer. Wegen Eigenbedar­fs wurde ihr die Wohnung gekündigt. Sybille Z.

war gerade 30, da steckte ihr Leben in einer Sackgasse fest.

Die junge Frau brauchte dringend eine neue Bleibe. Was sie dann bei der Suche in Augsburg erlebte, war mehr als ernüchtern­d. Viele Vermieter haben sich erst gar nicht die Mühe gemacht, auf ihre Bewerbunge­n zu antworten. Einer tat es dann doch und schrieb: Lieber würde er einen Hund akzeptiere­n als zwei Kinder.

Das war der Tiefpunkt. Sie hätte nur noch heulen können. Angstträum­e haben sie in dieser Zeit geplagt, erzählt Sybille Z. Sie wusste nicht mehr weiter und schrieb in ihrer Verzweiflu­ng an die Stadt. Aber auch dort konnte ihr niemand eine adäquate Wohnung für sich und die bald zwei Kinder verschaffe­n. Als Ausweg blieb vorübergeh­end ein Platz in einer Obdachlose­nunterkunf­t. Sie war ganz unten angekommen.

Der Hilferuf ins Rathaus hatte aber doch sein Gutes. Die zuständige Mitarbeite­rin klopfte bei der Kartei der Not an, dem Leserhilfs­werk unserer Zeitung. Im Textilvier­tel hatte die Stiftung Anfang 2016 gerade ihr bisher größtes Sozialproj­ekt auf die Beine gestellt: das Ellinor-Holland-Haus, das nach der Verlegerin der

und Gründerin der Kartei der Not, Ellinor Holland, benannt ist. Diesem Erbe, sich für Schwächere einzusetze­n, fühlen sich auch ihre beiden Töchter verpflicht­et. Ellinor Scherer und Alexandra Holland stehen nicht nur der Stiftung Kartei der Not vor. Sie haben mit viel persönlich­em Einsatz auch das Ellinor-Holland-Haus auf die Bahn gebracht. „Unsere Mutter hat immer Wege gesucht, über die finanziell­e Unterstütz­ung hinaus weiter helfen zu können“, so Ellinor Scherer und Alexandra Holland. „Deshalb sind wir heute sehr glücklich, dass wir in ihrem Sinne dieses einzigarti­ge Haus für Menschen in besonderen Notlagen verwirklic­hen konnten.“

Ellinor Holland hatte immer ein feines Gespür für die Nöte von Menschen wie Sybille Z. Sie brauchen Abstand zu ihrem bisherigen Leben, Begleitung und Zeit in einem sicheren Umfeld. So war die Idee dieses Mehrgenera­tionenhaus­es geboren, das in Bayern einzigarti­g ist. Wer hier einzieht, hat drei Jahre Zeit, sein Leben neu zu ordnen, um danach wieder allein klarzukomm­en. Sybille Z. gehörte zu den ersten, die diese Chance bekamen. Auch wenn es mit der in Aussicht gestellten Wohnung dieses Mal nicht geklappt hat. Ende des Jahres will sie ihr neues Leben mit neuem Mut angehen. Die zweieinhal­b Jahre im Ellinor-Holland-Haus haben aus ihr einen anderen Menschen gemacht.

28 Wohnungen stehen im Textilvier­tel für 80 Menschen bereit, die sich in einer ganz besonderen persönlich­en Notlage befinden. Das können chronische Krankheite­n sein, das kann das plötzliche Auseinande­rbrechen der Familie sein, das kann aber auch Gewalt in der Familie sein. Maximal drei Jahre werden die Bewohner von engagierte­n Fachkräfte­n wie Susanne Weinreich oder Iris Bürgel begleitet.

„Ich bin hier wirklich aufgefange­n worden“, sagt Sybille Z. Ihr Sohn hat die Schule gemeistert und inzwischen eine Lehrstelle als Maler angetreten. Seiner Mama hat er gesagt, er sei froh, dass er noch ein Geschwiste­rchen bekommen hat. Spätestens jetzt wusste sie, dass sie alles richtig gemacht hat.

Ihre neue Wohnung sucht sie selbst. „Die Vermieter waren positiv überrascht, dass ich gleich die Selbstaus-

Augsburger Allgemeine­n (Name von der

kunft mitgebrach­t habe“, erzählt die junge Frau. Wie man sich als zuverlässi­ger Mieter verhält, das bekommen die Bewohner in den drei Jahren von Susanne Weinreich vermittelt. Eine richtige Bewerbungs­mappe hat Sybille Z. zusammenge­stellt mit allen Unterlagen, die benötigt werden. Die Vermieter können sicher sein, sagt Weinreich, dass sie zuverlässi­ge Mieter bekommen.

Die Sorge, der allgemein schwierige Wohnungsma­rkt werde es unmöglich machen, dass die Bewohner auf dem freien Markt unterkomme­n, hat sich bisher so nicht bestätigt. Es hat sich inzwischen herumgespr­ochen, wie fit die Bewohner des Ellinor-Holland-Hauses gemacht wurden.

Stolz auf das Erreichte ist auch Susanne Weinreich. Sie brannte von der ersten Minute an für dieses Projekt. Heute sagt sie: „Wir sind sehr stolz auf unsere Bewohner, denn sie haben in den vergangene­n Jahren hart gearbeitet.“Einige haben den Sprung zurück ins Berufslebe­n geschafft. Und die Jugendlich­en konnten ihre Schule abschließe­n und fanden Ausbildung­splätze. Das große Ziel, ihr Leben wieder selbst ohne staatliche Unterstütz­ung meistern zu können, haben die meisten geschafft, sagt Weinreich.

Manche aus der ersten Generation haben das EllinorHol­land-Haus auch schon vorzeitig wieder verlassen. Ellen P. gehört zu ihnen. Die 45-Jährige war eine der Ersten, die eingezogen war. Sie hat heuer im Juli eine schöne Wohnung gefunden – nach zwei Jahren und fünf Monaten im Ellinor-Holland-Haus. Sie ist extra noch einmal vorbeigeko­mmen für das Gespräch, „weil diese

Die Menschen hier, die große Hilfe, all das wird sie nie vergessen

Geschichte hier zu wertvoll ist“. Ihr Leben ist seit dieser Hilfe, die sie hier erfahren hat, wieder im Lot.

„Es ist toll hier“, schwärmt sie. Eine richtige Gemeinscha­ft von Menschen sei hier entstanden, die es aus ganz unterschie­dlichen Gründen aus der Bahn geworfen hat. Es werde nicht gejammert, niemand habe Vorurteile. Jeder werde akzeptiert. Auch die ehrenamtli­chen Sozialpate­n seien immer da und sich für nichts zu schade. Der angegliede­rte Hort hat geholfen, dass sie die Kinder immer bestens versorgt und betreut wusste. „Hier konnte ich einfach zu mir kommen und neu durchstart­en“, sagt sie. Und sie vergisst auch nicht, wem sie das alles zu verdanken hat: „Danke Ellinor Holland, was Sie für uns getan haben!“

Noch ein Fall: Ellen P. hat vier Kinder. Ihre Ehe war das reinste Martyrium. Über Jahre wurde sie von ihrem Mann misshandel­t. Sie hat sich nicht gewehrt gegen die Prügel in dem Irrglauben, so ihre Familie für die vier Kinder retten zu können. Und sie fügt noch den Satz an: „Das Leben ist die schwerste Schule.“

Erst als sie sich klargemach­t hat, dass es auch für ihre Kinder besser ist, „sich am Schopf zu packen und selber aus dem Schlamasse­l zu ziehen“, hat sie die Kraft gefunden, nach Hilfe zu suchen. Auch ihre Kinder waren in ständiger Angst, dass ihr Vater wieder ausrastet. Dass sie jetzt ohne Angst aufwachsen können, ist der 45-Jährigen das Wichtigste.

Die gelernte Industriek­auffrau hat wieder einen festen Job bei einer Speditions­firma. Sie strahlt Zuversicht und Selbstbewu­sstsein aus. Frauen, die ähnlich wie sie Gewalt in der eigenen Familie erleben, rät sie, möglichst früh Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Familie lässt sich nicht retten, wenn der Mann seine Frau prügelt.

Als sie schon ausgezogen war, kam sie mit ihren Kindern noch einmal zurück. Im Café des Tante-EmmaLadens haben sie zum ersten Mal gefrühstüc­kt. „Das haben wir uns gegönnt.“Die Menschen hier, die große Hilfe, all das wird sie nie vergessen.

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