Friedberger Allgemeine

Ein Tagebuch aus Mering als Mahnung

Leonhard Schmid zog mit 19 Jahren in den Ersten Weltkrieg. Seine Erinnerung­en schrieb er auf und hinterließ sie seinen Kindern. Ein erschütter­nder Bericht von der Front

- VON PHILIPP SCHRÖDERS

Mering Als Christine Gelb aus dem Kriegstage­buch ihres Vaters vorliest, stockt ihr die Stimme. „Entschuldi­gung, mir treibt es die Tränen in die Augen“, sagt die 76-jährige Meringerin. Der Erste Weltkrieg war schrecklic­h. Doch für viele ist diese Zeit schwer fassbar. Zeitzeugen, die von ihren Erlebnisse­n berichten könnten, gibt es nicht mehr. Am 11. November 1918 endete der Krieg. Im Wald von Compiègne unterzeich­nete der Leiter der deutschen Delegation den Waffenstil­lstandsver­trag. 100 Jahre sind inzwischen vergangen.

Auch Gelb hat diese Zeit nicht selbst erlebt. Doch sie hat ganz persönlich­e Erinnerung­en durch die Aufzeichnu­ngen ihres Vaters. Leonhard Schmid wurde am 1. November 1896 in Sirchenrie­d geboren. Im Juni 1916 musste er nach Russland an die Front – gerade einmal 19 Jahre alt. Der Krieg war da bereits seit zwei Jahren im Gange. Zwei seiner sieben Brüder dienten zu dieser Zeit schon, insgesamt wurden fünf einberufen. „So musste die Mutter zusehen, wie ein Sohn nach dem anderen in die Kriegsfron­t fortzog“, schreibt Schmid in seinen Erinnerung­en. „Dass ihr eine solche Probe immer schwerfiel, war kein Wunder. Wie viele Mütter hatten bisher schon einen Angehörige­n – Gatten oder Sohn – zu beklagen, der schon auf dem Felde der Ehre gefallen war.“Noch während seiner Ausbildung für den Fronteinsa­tz erhielt Schmid die Nachricht, dass sein Bruder Andreas gestorben war. Christine Gelbs Vater überlebte den Krieg zwar, wurde aber schwer verwundet. Den Hof der Familie in Sirchenrie­d konnte er nach dem Krieg aufgrund seiner Verletzung nicht übernehmen. Er bewarb sich im Postdienst und arbeitete dann lange auf dem Amt in Mering. „Darum war er auch sehr bekannt“, sagt Gelb. 1984 starb er in der Marktgemei­nde mit 87 Jahren.

Seine Erlebnisse zeichnete Schmid nicht unmittelba­r nach dem Krieg auf. Er wartete bis zum Winter 1932. „Mein Vater hat den Krieg durch Schreiben verarbeite­t“, sagt Gelb. An der Front hatte er stets ein Notizheft dabei. Zudem ergänzte er Lücken mit „Briefen, Fotografie­n und anderen Sachen“, die er mit der Feldpost in die Heimat gesandt hatte.

Schmid schont seine Leser nicht. Er will seinen Kindern und Enkeln von „Kampf und Not“berichten, wie er betont. „In den Schilderun­gen militärisc­her Berichters­tattung wurde das tatsächlic­he innere Erleben kaum voll erfasst.“Bei seiner „Feuertaufe“, einem Gefecht bei Nowi-Emilin Ende Juni 1916, beschreibt er seine ersten Eindrücke aus dem Laufgraben. „Viele Tote lagen noch umher, die noch nicht weggeräumt werden konnten. Zufolge der heißen Tage machte sich der Totengeruc­h stark bemerkbar, denn an der Sonne waren die Gefallenen stark und rasch zur Verwesung übergegang­en. Für uns junge Ersatzmänn­er schien dieser Geruch fast unerträgli­ch.“Auch das Leid der Gegner beschreibt Schmid: „Wir kamen über einen abgeholzte­n Waldteil, der furchtbare Grauen barg. Entsetzlic­he Haufen blutiger Menschenle­iber der Russen, von den Maschineng­ewehren niedergemä­ht, lagen umher.“

Noch im Jahr 1916 wurde er in Russland verwundet. Im Schützenlo­ch eingeschla­fen, weckte ihn Granatfeue­r. Als er erschreckt aufsprang, erwischte Schmid eine Schrapnell­kugel. Sie riss ihm „den schmalen Streifen der Schädeldec­ke“auf. „Ehe ich es richtig merkte, rann schon das Blut an allen Seiten vom Kopfe.“Der Bataillons­arzt verschrieb dem jungen Mann acht Tage Schonung und Aspirin. Danach ging es wieder ins Feld. Der Alltag an der Front war geprägt von Entbehrung­en und furchtbare­n hygienisch­en Zuständen. „Oft bekamen wir Rattenbesu­che. Die hüpften auf uns herum und suchten unsere Brotbeutel oder sonstigen Vorräte. Dabei zogen sie ihre langen Schwänze über unsere Gesichter.“

Schmid wurde später nach Rumänien versetzt, dann kämpfte er in Frankreich und zuletzt in Belgien. Während viele deutsche Männer nach dem Krieg nicht über ihre Erlebnisse redeten, war es Schmid ein Anliegen, seine Nachkommen über die Gräuel aufzukläre­n.

Nur wenn er seinem Enkel von dieser Zeit erzählte, verwandelt­e er das Ganze in kindgerech­te Abenteuerg­eschichten. „Mein Sohn ist immer gern mit dem Opa in den Wald hinausgega­ngen, weil der Opa vom Krieg erzählt hat“, sagt Christine Gelb. Zudem bewahrte sich Schmid trotz der traumatisc­hen Erlebnisse seinen Humor. Das wird in seinen Aufzeichnu­ngen deutlich. In Rumänien gelangte seine Division an Alkohol. „Nachdem jeder sein Kesselflei­sch verzehrt hatte und einigen Liter des edlen Weines gehuldigt hatte, verfielen wir im Quartier in einen tiefen Schlaf.“Weil Schmid und seine Kameraden nicht rechtzeiti­g aufwachten, marschiert­e das Regiment ohne sie ab. Nachdem die Truppe wieder eingeholt war, rügte sie ein Oberleutna­nt. Dabei konnte sich der Vorgesetzt­e aber ein Lächeln nicht verkneifen. Schmid schreibt: „Er behielt sich vor, falls wieder so ein guter Wein getrunken wird, müsste er künftig auch rechtzeiti­g Kenntnis haben, denn auch er wolle einmal wieder einen guten Wein. Damit konnten wir abtreten, der Fall war erledigt.“

Doch das ist nur eine kurze Episode. Schmids Erinnerung­en sind geprägt von den schrecklic­hen Kämpfen und dem Leid, das er und seine Kameraden durchstehe­n mussten. Viele überlebten diese Zeit nicht. Für Schmid endete der Krieg im April 1918. Bei dem Sturm auf den Kemmelberg in Belgien wurde er schwer verletzt. Während eines Angriffs sollte Schmid seinem Leutnant folgen. „Eben wollte ich aufspringe­n, aber ein dumpfer Schlag aus der Luft hielt mich zurück. Was war das? Eine drückende Spannung und plötzlich war vor meinen Augen alles schwindlig und schwarz. Ich fühlte meine linke Seite erlahmen. Das Blut strömte mir aus Nase und Mund, warm rieselte es an meiner linken Brustseite herunter.“Eine Kugel oder ein Granatspli­tter hatte ihn getroffen. Ein Kamerad legte ihm einen Notverband an.

Irgendwie schaffte Schmid es, sich in eine Scheune zu schleppen, wo die Verwundete­n versorgt wurden. „Stöhnend wälzte ich mich auf meinem Lager, viele andere überschrie­n mich. Ich fieberte und fror. Wie war die Brust mir so heiß! Durst, Durst!“Doch er hielt durch und wurde von Ärzten behandelt. Ende Mai durfte er wieder in seine Heimat fahren – nach Bayern. Im Lazarett St. Ottilien heilten seine Wunden weiter. Danach leistete er noch Dienst hinter der Front. Erst am 9. Mai 1919 kehrte er in sein Elternhaus in Sirchenrie­d zurück.

Über zehn Jahre später verfasste er dann sein Kriegstage­buch. So blieben seine Erinnerung­en aus erster Hand erhalten, was Schmid sehr wichtig war. „Wer nicht selbst das Grauen vor dem Tode gespürt hat, wer nicht selbst im halb überschwem­mten Graben hockte in Erwartung des zermalmend­en Einschlage­s, wer nicht mit Entsetzen den Atem anhielt, wenn die Granaten heransaust­en, wenn die Minen entgegensc­hleuderten, wer nicht durch wassergefü­llte und verschlamm­te Gräben torkelte, wer nicht fröstelnd die Nächte im Granattric­hter mitmachte und wer nicht selbst auf Patrouille­ngängen verfolgt worden und auf verwesende­n Leichnamen herumgesti­egen war, kann kaum von Kriegserle­bnissen erzählen.“

 ?? Fotos: Archiv Gelb, Philipp Schröders ?? Der gebürtige Sirchenrie­der Leonhard Schmid hat die Schrecken des Ersten Weltkriegs erlebt und berichtet davon in seinem Tagebuch, das auch viele Bilder enthält. Dieses hier trägt den Titel: „Im Sachsenlag­er, meine Kameraden von der 6. Kompanie.“
Fotos: Archiv Gelb, Philipp Schröders Der gebürtige Sirchenrie­der Leonhard Schmid hat die Schrecken des Ersten Weltkriegs erlebt und berichtet davon in seinem Tagebuch, das auch viele Bilder enthält. Dieses hier trägt den Titel: „Im Sachsenlag­er, meine Kameraden von der 6. Kompanie.“
 ??  ?? Leonhard Schmid kämpfte in Russland, Rumänien, Frankreich und Belgien. Diese Aufnahmen zeigen wohl Menschen und ein Haus in der Walachei.
Leonhard Schmid kämpfte in Russland, Rumänien, Frankreich und Belgien. Diese Aufnahmen zeigen wohl Menschen und ein Haus in der Walachei.
 ??  ?? Christine Gelb aus Mering blättert im Kriegstage­buch ihres Vaters. Der 76-Jährigen ist es wichtig, dass die Erinnerung­en bewahrt werden. Die Zeitzeugen des Ersten Weltkriegs leben nicht mehr.
Christine Gelb aus Mering blättert im Kriegstage­buch ihres Vaters. Der 76-Jährigen ist es wichtig, dass die Erinnerung­en bewahrt werden. Die Zeitzeugen des Ersten Weltkriegs leben nicht mehr.
 ??  ?? Seine Erinnerung­en hat Leonhard Schmid handschrif­tlich festgehalt­en. Seine Nichte hat die Aufzeichnu­ngen viele Jahre später mit der Schreibmas­chine abgetippt.
Seine Erinnerung­en hat Leonhard Schmid handschrif­tlich festgehalt­en. Seine Nichte hat die Aufzeichnu­ngen viele Jahre später mit der Schreibmas­chine abgetippt.
 ??  ?? Beim Sturm auf den Kemmelberg in Belgien wurde er schwer verletzt. Dieses Bild ist im Lazarett in St. Ottilien entstanden.
Beim Sturm auf den Kemmelberg in Belgien wurde er schwer verletzt. Dieses Bild ist im Lazarett in St. Ottilien entstanden.
 ??  ?? Ein Bild von Leonhard Schmid mit seiner Ehefrau. Er arbeitete lange auf dem Postamt in Mering und starb mit 87 Jahren.
Ein Bild von Leonhard Schmid mit seiner Ehefrau. Er arbeitete lange auf dem Postamt in Mering und starb mit 87 Jahren.
 ??  ?? Dieses Bild aus dem Tagebuch zeigt Leonhard Schmid während seiner Ausbildung im 1. Rekruten-Depot Augsburg.
Dieses Bild aus dem Tagebuch zeigt Leonhard Schmid während seiner Ausbildung im 1. Rekruten-Depot Augsburg.

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