Ein Tagebuch aus Mering als Mahnung
Leonhard Schmid zog mit 19 Jahren in den Ersten Weltkrieg. Seine Erinnerungen schrieb er auf und hinterließ sie seinen Kindern. Ein erschütternder Bericht von der Front
Mering Als Christine Gelb aus dem Kriegstagebuch ihres Vaters vorliest, stockt ihr die Stimme. „Entschuldigung, mir treibt es die Tränen in die Augen“, sagt die 76-jährige Meringerin. Der Erste Weltkrieg war schrecklich. Doch für viele ist diese Zeit schwer fassbar. Zeitzeugen, die von ihren Erlebnissen berichten könnten, gibt es nicht mehr. Am 11. November 1918 endete der Krieg. Im Wald von Compiègne unterzeichnete der Leiter der deutschen Delegation den Waffenstillstandsvertrag. 100 Jahre sind inzwischen vergangen.
Auch Gelb hat diese Zeit nicht selbst erlebt. Doch sie hat ganz persönliche Erinnerungen durch die Aufzeichnungen ihres Vaters. Leonhard Schmid wurde am 1. November 1896 in Sirchenried geboren. Im Juni 1916 musste er nach Russland an die Front – gerade einmal 19 Jahre alt. Der Krieg war da bereits seit zwei Jahren im Gange. Zwei seiner sieben Brüder dienten zu dieser Zeit schon, insgesamt wurden fünf einberufen. „So musste die Mutter zusehen, wie ein Sohn nach dem anderen in die Kriegsfront fortzog“, schreibt Schmid in seinen Erinnerungen. „Dass ihr eine solche Probe immer schwerfiel, war kein Wunder. Wie viele Mütter hatten bisher schon einen Angehörigen – Gatten oder Sohn – zu beklagen, der schon auf dem Felde der Ehre gefallen war.“Noch während seiner Ausbildung für den Fronteinsatz erhielt Schmid die Nachricht, dass sein Bruder Andreas gestorben war. Christine Gelbs Vater überlebte den Krieg zwar, wurde aber schwer verwundet. Den Hof der Familie in Sirchenried konnte er nach dem Krieg aufgrund seiner Verletzung nicht übernehmen. Er bewarb sich im Postdienst und arbeitete dann lange auf dem Amt in Mering. „Darum war er auch sehr bekannt“, sagt Gelb. 1984 starb er in der Marktgemeinde mit 87 Jahren.
Seine Erlebnisse zeichnete Schmid nicht unmittelbar nach dem Krieg auf. Er wartete bis zum Winter 1932. „Mein Vater hat den Krieg durch Schreiben verarbeitet“, sagt Gelb. An der Front hatte er stets ein Notizheft dabei. Zudem ergänzte er Lücken mit „Briefen, Fotografien und anderen Sachen“, die er mit der Feldpost in die Heimat gesandt hatte.
Schmid schont seine Leser nicht. Er will seinen Kindern und Enkeln von „Kampf und Not“berichten, wie er betont. „In den Schilderungen militärischer Berichterstattung wurde das tatsächliche innere Erleben kaum voll erfasst.“Bei seiner „Feuertaufe“, einem Gefecht bei Nowi-Emilin Ende Juni 1916, beschreibt er seine ersten Eindrücke aus dem Laufgraben. „Viele Tote lagen noch umher, die noch nicht weggeräumt werden konnten. Zufolge der heißen Tage machte sich der Totengeruch stark bemerkbar, denn an der Sonne waren die Gefallenen stark und rasch zur Verwesung übergegangen. Für uns junge Ersatzmänner schien dieser Geruch fast unerträglich.“Auch das Leid der Gegner beschreibt Schmid: „Wir kamen über einen abgeholzten Waldteil, der furchtbare Grauen barg. Entsetzliche Haufen blutiger Menschenleiber der Russen, von den Maschinengewehren niedergemäht, lagen umher.“
Noch im Jahr 1916 wurde er in Russland verwundet. Im Schützenloch eingeschlafen, weckte ihn Granatfeuer. Als er erschreckt aufsprang, erwischte Schmid eine Schrapnellkugel. Sie riss ihm „den schmalen Streifen der Schädeldecke“auf. „Ehe ich es richtig merkte, rann schon das Blut an allen Seiten vom Kopfe.“Der Bataillonsarzt verschrieb dem jungen Mann acht Tage Schonung und Aspirin. Danach ging es wieder ins Feld. Der Alltag an der Front war geprägt von Entbehrungen und furchtbaren hygienischen Zuständen. „Oft bekamen wir Rattenbesuche. Die hüpften auf uns herum und suchten unsere Brotbeutel oder sonstigen Vorräte. Dabei zogen sie ihre langen Schwänze über unsere Gesichter.“
Schmid wurde später nach Rumänien versetzt, dann kämpfte er in Frankreich und zuletzt in Belgien. Während viele deutsche Männer nach dem Krieg nicht über ihre Erlebnisse redeten, war es Schmid ein Anliegen, seine Nachkommen über die Gräuel aufzuklären.
Nur wenn er seinem Enkel von dieser Zeit erzählte, verwandelte er das Ganze in kindgerechte Abenteuergeschichten. „Mein Sohn ist immer gern mit dem Opa in den Wald hinausgegangen, weil der Opa vom Krieg erzählt hat“, sagt Christine Gelb. Zudem bewahrte sich Schmid trotz der traumatischen Erlebnisse seinen Humor. Das wird in seinen Aufzeichnungen deutlich. In Rumänien gelangte seine Division an Alkohol. „Nachdem jeder sein Kesselfleisch verzehrt hatte und einigen Liter des edlen Weines gehuldigt hatte, verfielen wir im Quartier in einen tiefen Schlaf.“Weil Schmid und seine Kameraden nicht rechtzeitig aufwachten, marschierte das Regiment ohne sie ab. Nachdem die Truppe wieder eingeholt war, rügte sie ein Oberleutnant. Dabei konnte sich der Vorgesetzte aber ein Lächeln nicht verkneifen. Schmid schreibt: „Er behielt sich vor, falls wieder so ein guter Wein getrunken wird, müsste er künftig auch rechtzeitig Kenntnis haben, denn auch er wolle einmal wieder einen guten Wein. Damit konnten wir abtreten, der Fall war erledigt.“
Doch das ist nur eine kurze Episode. Schmids Erinnerungen sind geprägt von den schrecklichen Kämpfen und dem Leid, das er und seine Kameraden durchstehen mussten. Viele überlebten diese Zeit nicht. Für Schmid endete der Krieg im April 1918. Bei dem Sturm auf den Kemmelberg in Belgien wurde er schwer verletzt. Während eines Angriffs sollte Schmid seinem Leutnant folgen. „Eben wollte ich aufspringen, aber ein dumpfer Schlag aus der Luft hielt mich zurück. Was war das? Eine drückende Spannung und plötzlich war vor meinen Augen alles schwindlig und schwarz. Ich fühlte meine linke Seite erlahmen. Das Blut strömte mir aus Nase und Mund, warm rieselte es an meiner linken Brustseite herunter.“Eine Kugel oder ein Granatsplitter hatte ihn getroffen. Ein Kamerad legte ihm einen Notverband an.
Irgendwie schaffte Schmid es, sich in eine Scheune zu schleppen, wo die Verwundeten versorgt wurden. „Stöhnend wälzte ich mich auf meinem Lager, viele andere überschrien mich. Ich fieberte und fror. Wie war die Brust mir so heiß! Durst, Durst!“Doch er hielt durch und wurde von Ärzten behandelt. Ende Mai durfte er wieder in seine Heimat fahren – nach Bayern. Im Lazarett St. Ottilien heilten seine Wunden weiter. Danach leistete er noch Dienst hinter der Front. Erst am 9. Mai 1919 kehrte er in sein Elternhaus in Sirchenried zurück.
Über zehn Jahre später verfasste er dann sein Kriegstagebuch. So blieben seine Erinnerungen aus erster Hand erhalten, was Schmid sehr wichtig war. „Wer nicht selbst das Grauen vor dem Tode gespürt hat, wer nicht selbst im halb überschwemmten Graben hockte in Erwartung des zermalmenden Einschlages, wer nicht mit Entsetzen den Atem anhielt, wenn die Granaten heransausten, wenn die Minen entgegenschleuderten, wer nicht durch wassergefüllte und verschlammte Gräben torkelte, wer nicht fröstelnd die Nächte im Granattrichter mitmachte und wer nicht selbst auf Patrouillengängen verfolgt worden und auf verwesenden Leichnamen herumgestiegen war, kann kaum von Kriegserlebnissen erzählen.“