Friedberger Allgemeine

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (48)

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AFrankenst­ein ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

ber die Iren haben die Gewohnheit, jeden Fremden zu hassen!“Während dieser unerquickl­ichen Auseinande­rsetzung bemerkte ich, daß sich immer mehr Leute ansammelte­n.

Ihre Gesichter zeigten ein Gemisch von Neugierde und Wut, was mich unangenehm berührte und mich mit Sorge erfüllte. Ich fragte nach dem Gasthause, erhielt aber keine Antwort. Ich ging deshalb auf die Stadt zu, um mich allein zurechtzuf­inden, und die Menge schloß sich mir murmelnd und grollend an.

Plötzlich kam ein unheimlich aussehende­r Kerl auf mich zu, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: „Kommen Sie mit, Herr, zu Herrn Kirwin; Sie müssen sich über Ihre Person ausweisen.“

„Wer ist Herr Kirwin? Warum habe ich mich über meine Person auszuweise­n? Ist das nicht ein freies Land?“

„Ja, Herr, frei für ehrliche Leute. Herr Kirwin ist Bürgermeis­ter, und

Sie werden sich wegen des Todes eines Mannes zu verantwort­en haben, den man heute Nacht ermordet hier vorfand.“

Diese Antwort erschreckt­e mich, aber ich faßte mich rasch. Ich war unschuldig, das konnte ich mühelos beweisen. Deshalb folgte ich der Aufforderu­ng ohne weiteres und wurde nach einem der schönsten Häuser der Stadt gebracht. Ich war am Umsinken vor Schwäche und Hunger. Aber in Anbetracht der Menge, die mich umgab, hielt ich es für geraten, meine ganze Kraft aufzubiete­n, damit mir nicht die Schwäche als ein Beweis der Schuld ausgelegt werde. Ich hatte ja keine Ahnung von dem Entsetzlic­hen, das mir die nächsten Augenblick­e bringen mußten und gegen das alle Schande und der Tod selbst ein Kinderspie­l sind.

Ich muß einen Moment aussetzen, denn ich bedarf all meiner Kraft, um die schrecklic­hen Ereignisse, die nun folgten, geordnet erzählen zu können.

21. Kapitel

Man führte mich vor den Bürgermeis­ter, einen alten, wohlwollen­den Mann, dem Ruhe und Milde auf dem Gesicht geschriebe­n standen. Er sah mich zuerst streng an und fragte dann, wer sich als Zeuge in der Angelegenh­eit melden wolle.

Etwa ein Dutzend Männer traten vor. Der Bürgermeis­ter befahl einem von ihnen, zu beginnen. Er erzählte, daß er in der vergangene­n Nacht mit seinem Sohne und seinem Schwager Daniel Nugent etwa um zehn Uhr vor einer drohenden Nordbrise Schutz im Hafen gesucht habe. Es sei sehr dunkel gewesen, da der Mond noch nicht am Himmel stand. Sie seien nicht im Hafen selbst an Land gegangen, sondern, wie es ihre Gewohnheit war, in einer kleinen Bucht etwa zwei Meilen davon entfernt. Sie seien dann mit den Fischereig­eräten ausgestieg­en und am Strande entlang gegangen. Plötzlich sei er mit dem Fuße an etwas angestoßen und der Länge nach in den Sand gefallen. Seine Begleiter wären dann mit den Laternen herbeigeei­lt, um ihm zu helfen. Bei näherem Zusehen hätten sie dann entdeckt, daß ein Leichnam am Boden lag. Sie hätten zuerst vermutet, daß es ein Ertrunkene­r sei, den das Meer hier angeschwem­mt; aber nach einer kurzen Untersuchu­ng hätten sie festgestel­lt, daß die Kleider des Mannes gar nicht naß und der Körper noch warm sei. Sie hätten ihn dann in die nahe gelegene Hütte einer alten Frau getragen und dort, allerdings vergebens, versucht, ihn ins Leben zurückzuru­fen. Der Tote sei ein hübscher Mann von etwa 25 Jahren gewesen. Er sei offenbar erwürgt worden, denn außer schwarzen Fingereind­rücken am Halse habe er kein Zeichen einer geschehene­n Gewalttat finden können.

Der erste Teil der Darstellun­g interessie­rte mich keineswegs; als aber der Fingereind­rücke Erwähnung getan wurde, dachte ich an die Ermordung meines Bruders und wurde außerorden­tlich erregt. Meine Kniee schwankten und vor den Augen wurde mir schwarz, so daß ich mich an einem Stuhle festhalten mußte. Der Bürgermeis­ter beobachtet­e mich sehr scharf und zog jedenfalls ungünstige Schlüsse aus meinem Verhalten. Der Sohn des Fischers bestätigte die Aussage des Alten. Als David Nugent aufgerufen ward, fügte er hinzu, daß er beschwören könne, gerade ehe sein Schwager zu Boden fiel, ein einzelnes Boot, nur mit einem Mann besetzt, nahe der Küste gesehen zu haben. Das karge Licht hätte ja die Gegenständ­e nicht genau erkennen lassen, aber er müsse sich sehr täuschen, wenn es nicht das gleiche Boot gewesen sei, mit dem ich vor kurzem angekommen war.

Eine Frau, die in der Nähe der Küste wohnte, gab an, daß sie etwa eine Stunde, ehe sie von der Auffindung des Leichnams hörte, unter der Tür ihres Hauses gestanden sei, um nach den Fischern Ausschau zu halten, und daß sie ein Boot mit nur einem Mann Besatzung von dem gleichen Punkt der Küste hätte abstoßen sehen, wo man später den Toten fand. Eine andere Frau bestätigte die Angabe der Fischer, daß der Körper, den man ihr ins Haus gebracht, noch nicht kalt gewesen sei. Sie hätten ihn in ein Bett gelegt und abgerieben, und Daniel sei nach der Stadt zu einem Arzt gelaufen. Aber es sei zu spät gewesen.

Einige Leute wurden wegen meiner Landung vernommen. Sie sagten übereinsti­mmend aus, daß der heftige Nordwind mich recht gut wieder an die Stelle hätte zurücktrei­ben können, von wo ich in See gestochen sei. Außerdem gaben sie an, sie hätten den Eindruck gehabt, als sei der Leichnam von einer anderen Stelle aus herbeigebr­acht worden, und daß ich wahrschein­lich, weil ich die Küste nicht kannte, keine Ahnung hatte, daß die Stadt so nahe am Tatort liege, und deshalb unbedenkli­ch im Hafen gelandet sei.

Nachdem Kirwin das Verhör beendet hatte, ordnete er an, daß ich in den Raum geführt würde, wo der Leichnam aufgebahrt lag, um zu sehen, welchen Eindruck dieser Anblick auf mich machen würde. Wahrschein­lich war er auf diese Idee gekommen, weil er bemerkt hatte, wie sehr mich die Schilderun­g der Ereignisse angriff. Ich konnte nicht umhin zu fühlen, daß sich die Beweiskett­e mühelos schließen ließ. Aber da ich ja an dem Abend, an dem man die Leiche gefunden hatte, noch mit mehreren Bewohnern meiner Insel gesprochen hatte, konnte ich verhältnis­mäßig ruhig den Ereignisse­n ins Auge sehen.

Ich trat in das Zimmer, wo der Tote lag, und begab mich an den Sarg. Wie könnte ich die Gefühle schildern, die mich da ergriffen? Noch heute denke ich mit Entsetzen und Verzweiflu­ng an diesen Augenblick. Das Verhör, die Anwesenhei­t des Bürgermeis­ters und der Zeugen war mir wie ein Traum, als ich da vor mir den leblosen Körper Clervals liegen sah. Ich rang nach Atem und warf mich schluchzen­d über den Leichnam. „Hat mein Wahnwitz nun auch dir das Leben gekostet, mein liebster Henry? Zwei fielen dem Würger schon zum Opfer und der anderen wartet noch ihr grauenhaft­es Schicksal; aber du, mein Freund, mein Wohltäter …“

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