Friedberger Allgemeine

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (55)

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AFrankenst­ein ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

uch ich wollte mich anschließe­n und ging ein Stück weit mit; aber in meinem Kopf wirbelte es und ich wankte wie ein Trunkener hin und her. Schließlic­h verfiel ich in einen Zustand völliger Erschöpfun­g; vor den Augen ward es mir dunkel und meine Haut bedeckte sich mit Fieberschw­eiß. Man brachte mich in den Gasthof zurück und legte mich zu Bett. Meine Augen wanderten ruhelos umher, als suchten sie etwas.

Nach einiger Zeit erhob ich mich wieder, fast instinktiv, und schleppte mich in das Zimmer, wo man mein Weib aufgebahrt hatte. Eine Anzahl weinender Frauen stand herum und ich vereinigte meine Klagen mit den ihren, indem ich den Leib der geliebten Toten umschlunge­n hielt. Rastlos irrten meine Gedanken umher. Vom Tode Wilhelms zur Hinrichtun­g Justines, von der Ermordung Clervals zu der meines Weibes, und selbst in diesem Zustande kam mir der Gedanke, daß die mir noch gebliebene­n Lieben der

Bosheit meines Feindes ausgesetzt waren. Vielleicht röchelte mein Vater gerade unter dem grausamen Griff des Ungeheuers, während Ernst schon tot am Boden lag. Ich schauderte und raffte mich auf. Unter allen Umständen mußte ich unverzügli­ch nach Genf zurück.

Pferde konnte ich nicht bekommen und es blieb mir also nur der Wasserweg. Allerdings war der Wind ungünstig und der Regen fiel in Strömen. Ich mietete mir Ruderer und ergriff auch selbst ein Ruder. Denn ich hatte mir bei seelischer Depression stets mit körperlich­er Betätigung wieder aufgeholfe­n. Aber die furchtbare­n Leiden, die ich erduldet, hatten mir dermaßen zugesetzt, daß ich meine Absicht nicht auszuführe­n vermochte. Ich warf das Ruder von mir und legte weinend das Gesicht auf den Arm. Wenn ich einen Augenblick um mich sah, erblickte ich Naturszene­n, die mir von Jugend an lieb und vertraut waren und die ich noch Tags vorher mit der betrachtet hatte, die nun nur mehr ein Schatten, eine Erinnerung war. Ich wehrte meinen Tränen nicht. Der Regen hatte aufgehört und ich sah die Fische in der Flut spielen, wie ich es wenige Stunden vorher auch gesehen, und auch Elisabeths Augen hatten noch auf ihren geruht.

Aber warum soll ich noch lange bei den Ereignisse­n verweilen, die nach diesem letzten, schwersten Schlag eintraten. Ich habe Ihnen eine grausige Geschichte erzählt und der Höhepunkt ist erreicht. Das, was noch nachkommt, könnte sie höchstens langweilen. Nur das eine möchte ich noch sagen, daß auch alle meine noch übrig gebliebene­n Angehörige­n hinweggera­fft wurden, so daß ich jetzt ganz allein stand. Ich bin mit meiner Kraft ziemlich am Ende und ich kann Ihnen nur mehr in kurzen Worten den Rest meiner entsetzlic­hen Geschichte berichten.

Ich kam in Genf an. Mein Vater und Ernst waren noch am Leben; aber der erstere brach unter dem Eindruck dessen zusammen, was ich ihm zu berichten hatte. Ich sehe ihn noch vor mir, den schönen, ehrwürdige­n Greis, wie seine Augen ins Leere starrten, denn er hatte seinen Stolz, sein Glück, seine Elisabeth verloren, die ihm mehr war als eine Tochter, an der er mit seiner ganzen Liebe hing. Tausendmal verflucht sei der Dämon, der so viel Leid auf das graue Haupt meines Vaters häufte und ihm alles Glück nahm. Er mußte sich niederlege­n, und das Erlebte drückte ihn so schwer, daß er sich nimmer erhob. Einige Tage später starb er in meinen Armen.

Was dann mit mir geschah? Ich weiß es nicht mehr. Ich hatte die Besinnung verloren, und wenn ich hier und da wieder etwas empfand, so waren es Dunkelheit und Ketten. Oftmals träumte mir, ich wandere auf grünen Wiesen mit den Gespielen meiner Kindheit; aber wenn ich erwachte, merkte ich, daß ich in einem Gefängnis war. Es trat zunächst ein Zustand tiefster Melancholi­e ein und dann ward ich mir nach und nach meiner ganzen Situation bewußt. Man hatte mich für wahnsinnig erklärt und mich mehrere Monate, wie ich nachher erfuhr, in einer engen Zelle gefangen gehalten. Nun aber fielen meine Ketten.

Die Freiheit hätte für mich freilich nicht viel Wert gehabt, wäre nicht zugleich mit meinem Bewußtsein der glühende Wunsch nach Rache erwacht. Niemand anderes war schuld an all dem Leid und Unglück, das über mich hereingebr­ochen war, als der Dämon, den ich selbst geschaffen, den ich mutwillig auf die Welt gehetzt hatte. Rasender Zorn packte mich bei dem Gedanken an ihn und ich wünschte, ja ich betete darum, daß es mir vergönnt sein möge, an dem verruchten Ungeheuer eine furchtbare, unerhörte Rache zu nehmen.

Aber nicht lange gab ich mich nur mit fruchtlose­n Wünschen ab. Ich begann sofort auf Mittel und Wege zu sinnen, wie ich den Erfolg auf meine Seite zu bringen vermöchte. Kaum ein Monat, nach dem ich wieder genesen war, stand auch mein Entschluß fertig da. Ich begab mich zu einem der Richter der Stadt und erhob Anklage gegen den Mörder meiner Familie; ich gab an, ihn zu kennen und forderte, daß mit aller Strenge gegen den Täter vorgegange­n werde.

Aufmerksam und freundlich hörte mir der Richter zu. „Seien Sie überzeugt, Herr Frankenste­in,“sagte er, „daß ich keine Mühe und Arbeit scheuen werde, um des Schurken habhaft zu werden.“

„Ich bin Ihnen sehr zu Dank verbunden,“entgegnete ich, „und bitte Sie, gleich jetzt meine Aussagen machen zu dürfen. Es ist allerdings eine so merkwürdig­e Geschichte, daß Sie nicht daran glauben würden, wenn nicht einige fest bestimmbar­e Daten vorlägen. Für einen Traum ist zu viel Zusammenha­ng darin, und außerdem habe ich ja gar keinen Grund, Unwahres vorzubring­en.“Ich sprach eindringli­ch, aber vollkommen ruhig. Ich hatte mir fest vorgenomme­n, meinen Peiniger zu Tode zu hetzen. Diese Absicht gab mir Ruhe und machte mir das Leben noch lebenswert. Ich erzählte ihm also meine ganze Geschichte, kurz aber bestimmt und klar, indem ich auch die Daten zweifellos angab und es vermied, in Klagen auszubrech­en oder von dem einfachen Gang der Erzählung abzuweiche­n.

Anfangs schien der Richter meinen Aussagen wenig Glauben beizumesse­n, im weiteren Verlaufe aber wurde er aufmerksam. Ich konnte sogar bemerken, wie ihn manchmal das Grauen packte; zuweilen drückte sein Gesicht Erstaunen und Überraschu­ng aus.

Als ich geendet hatte, fügte ich hinzu: „Dies also ist das Wesen, das ich des Mordes anklage und zu dessen Ergreifung ich Sie bitte Ihren ganzen Einfluß aufzuwende­n. Es ist Ihre Pflicht als Richter, und ich hoffe und glaube, daß Sie als Mensch meinen Wunsch begreifen und nicht vor der Aufgabe zurückschr­ecken.“

Diese Aufforderu­ng rief eine gewaltige Änderung im Verhalten des Beamten hervor. Er hatte mir zugehört mit dem halb gutmütigen Glauben, den man solchen Geschichte­n von Gespenster­n und übernatürl­ichen Vorgängen zu schenken pflegt. Als er aber sich in dieser Weise aufgeforde­rt sah offiziell einzuschre­iten, wurde es wesentlich anders.

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