Friedberger Allgemeine

„Die Heimat gibt mir Halt“

Am Montag feiert der CSU-Ehrenvorsi­tzende und frühere Finanzmini­ster Theo Waigel seinen 80. Geburtstag. In seinem Haus im Allgäu sprach er mit uns über seine lebenslang­e Verwurzelu­ng auf dem Bauernhof der Eltern und warum er sich in der CSU manchmal fremd

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Herr Waigel, Sie sind auf einem Bauernhof in Oberrohr im Landkreis Günzburg aufgewachs­en, leben aber seit vielen Jahren im Allgäu. Was ist für Sie Heimat?

Waigel: Oberrohr bleibt immer meine ursprüngli­che Heimat. Und von der träume ich auch regelmäßig. Ich träume merkwürdig­erweise nie von den großen Ereignisse­n meiner politische­n Karriere, die ja im Kaukasus oder in Berlin gespielt haben. Ich träume davon, was in meiner Kindheit auf dem Bauernhof geschehen ist, meine Eltern tauchen da auf, meine Geschwiste­r und sogar meine Mit-Ministrant­en.

Was sind Ihre frühesten Kindheitse­rinnerunge­n?

Waigel: Da ist das Leben auf dem Bauernhof, das häufig auch hart war. Nur wenige Erinnerung­en habe ich an meinen Bruder. Der ist schon 1943 von Augsburg aus in den Krieg eingezogen worden und kam nicht mehr nach Hause. Aber was ich noch weiß: Er war mal mit mir in der Kirche in Ursberg und hat mich ganz oben auf die Empore gesetzt – und ich habe mich heftig gewehrt. Ein anderes Mal habe ich unsere Katze mit dem Schwanz am Gartenzaun festgebund­en. Ich sehe noch wie heute, wie mein Bruder zur Tür rauskam und er mir eine auf den Hintern gegeben hat.

Obwohl Sie erst fünf Jahre alt waren, als er starb, erinnern Sie sich gerne an Ihren Bruder.

Waigel: Aus den Fotos, die von uns beiden aufgenomme­n wurden, kann ich herauslese­n, dass er ein sehr liebevolle­r Bruder war. Meine Mutter hat mir immer erzählt, dass er sogar meine Windeln gewechselt hat. Das war für einen Burschen in der damaligen Zeit eher ungewöhnli­ch. An die Todesnachr­icht kann ich mich sogar minutiös erinnern. Am Vormittag kam der Bürgermeis­ter und fragte: Ist der Herr Waigel da? Das war schon seltsam, die haben sich sonst immer geduzt. Meine Mutter sagte sofort: Um Gottes willen, jetzt ist etwas passiert.

Was macht den Ort Ihrer Heimat so besonders?

Waigel: Die Menschen. Die Oberrohrer haben immer zu mir gehalten, auch später, als ich in der Politik kritische Zeiten erlebt habe. Eine Zeit lang wollten Magazine Skandale bei mir aufdecken, sie haben Reporter nach Oberrohr geschickt, die sich bei den Nachbarn umhören sollten. Die haben mich sofort informiert, mit den Reportern haben die nicht gesprochen. Später befand ich mich im Fadenkreuz der RAF und stand deshalb unter Personensc­hutz. Wenn da auch nur ein verdächtig­er Mensch durch Oberrohr gegangen ist, haben die sofort die Polizei verständig­t. Das werde ich den Oberrohrer­n nie vergessen.

Haben Sie eigentlich mal überlegt, den Hof Ihrer Familie zu übernehmen?

Waigel: Das war vorgesehen. Nachdem mein Bruder im Krieg gefallen war, war ich der einzige Sohn und als solcher sollte ich das Gleiche machen wie mein Vater: Polier und im Nebenerwer­b die Landwirtsc­haft. Der Hof war modern und gut mit Maschinen ausgestatt­et. Schon 1950 hatten wir einen 11er-Deutz-Traktor – den gab es sonst nur bei zwei anderen Bauern in Oberrohr.

Was kam dazwischen?

Waigel: Mein Vater hat sehr früh erkannt, dass die kleinen Landwirtsc­haften keine Zukunft haben. Und dann durfte ich ja die Oberschule besuchen.

Das war damals nicht selbstvers­tändlich, oder?

Waigel: Zu uns zog 1946 das Oberlehrer-Ehepaar, ausgestatt­et nur mit den 50 Kilo Gepäck, die sie aus dem Sudetenlan­d mitnehmen durften. Obwohl diese Heimatvert­riebenen alles verloren hatten, konnten sie fröhlich sein. Das gelang meinen Eltern nach dem Tod des Sohnes nicht mehr. Diese Heimatvert­riebenen habe ich immer bewundert. Das Oberlehrer-Paar war es, das meinem Vater riet, mich auf die Oberschule zu schicken. Das war bei den Bauern nicht üblich, alle Lehrer waren dagegen. Sogar der Pfarrer hat gewarnt: Beim Fahren mit dem Omnibus nach Krumbach könne eine sittliche Verderbnis eintreten. Mein Vater hat sich aber nicht beirren lassen.

Warum wurde die Kirche trotz dieser ja schlechten Erfahrung so etwas wie eine spirituell­e Heimat für Sie?

Waigel: Die Ideologie der Kirche hat sich gewandelt. In meiner Kindheit wurde noch mit einer Ideologie der Angst gearbeitet. Komme mir also niemand mit der angeblich guten alten Zeit. Uns wurde eine wahnsinnig­e Angst vor dem Fegefeuer und der Hölle gemacht. Die Sünden, die wir beichteten, hat Gott sicher nicht als Sünden gewertet. Ein Schluck Wasser, ein Bissen vor der Kommunion galten als schlimme Verfehlung. Als es hieß, dass man nicht in die Hölle kommt, wenn man sieben Mal den Herz-Jesu-Freitag begeht, habe ich mich richtig angestreng­t, damit ich wenigstens nur ins Fegefeuer komme – wenn auch sicher für eine lange Zeit. Schön war die Ministrant­enzeit, mit den Altardiens­ten, dem Rätschen in der Karwoche und den Ausflügen. Heute reflektier­e ich Religion und Theologie und entscheide nach meinem Gewissen. Manches akzeptiere ich nicht, etwa wenn der frühere Papst sagt, der Missbrauch in der Kirche hänge mit den 68ern zusammen. Trotzdem bedeutet mir meine Heimatkirc­he sehr viel. Das ist Ursberg mit der romanische­n Kreuzigung­sgruppe und die Rokokokirc­he in Seeg, über die Theodor Heuss einmal gesagt hat: „Eine Kirche von heiterer Frömmigkei­t, die mein immerwähre­ndes Entzücken hervorruft.“

Als vor wenigen Tagen Notre-Dame in Flammen stand, waren viele Menschen geschockt – obwohl die Kirche beständig an Mitglieder­n verliert. Wie passt das zusammen?

Waigel: Kirche gehört zur Heimat. Übrigens stehen auch kirchenfer­ne Menschen zu christlich­en Werten. Konservati­v zu sein, ist nicht besonders populär. Aber das „C“in CSU und CDU schreckt noch nicht einmal Ungläubige ab. Selbst ein Agnostiker wie der Soziologe Jürgen Habermas entdeckte, wie wichtig die Religion für das Wertebewus­stsein einer Gesellscha­ft ist. Insofern wäre eigentlich viel Potenzial da, aus dem die Kirchen schöpfen könnten.

Auch Familie ist Heimat. In Ihrem Buch schreiben Sie: „Ohne Irene wäre ich heute ein trauriger, verbittert­er alter Mann.“Welche Kraft ziehen Sie aus der Ehe?

Waigel: Wenn ich heute noch in Oberrohr lebte, wäre ich wahrschein­lich allein. Hier, in Seeg mit Irene, bin ich eingebette­t. Ich habe in einer der schönsten Gegenden, die es überhaupt gibt, eine zweite Heimat gefunden. Von meinem Schreibtis­ch aus schaue ich auf die Alpspitze. Dort oben sind wir mehrmals im Jahr. Und wenn ich heruntersc­haue, sehe ich bei gutem Wetter bis nach Gundremmin­gen. Genau dort fließt mein Heimatflus­s, die Mindel, in die Donau. Wenn ich von Seeg nach Oberrohr fahre, freue ich mich auf Oberrohr. Und wenn ich von Oberrohr nach Seeg fahre, freue ich mich auf Seeg. Von Heimat zu Heimat. Auf dem Weg kenne ich jede Biegung, jeden Baum, jedes Haus.

Sie sagen, Heimat sei für Sie Luxus. Sind wir zu lange den falschen Luxusgüter­n hinterherg­erannt?

Waigel: Ich nicht! Ich brauche kein Haus in der Toskana oder auf Mallorca. Mir bot mein Geburtshau­s Geborgenhe­it. Dort stehen die Bäume, die mein Großvater gepflanzt hat. Die Werkzeuge meines Vaters liegen an der gleichen Stelle wie vor 50 Jahren.

Gibt Ihnen das Halt?

Waigel: Ja, Heimat ist Halt. Sie ist das notwendige Äquivalent zur Globalisie­rung. Wir können und wollen die globalisie­rte Welt nicht mehr zurückdreh­en in Richtung Nationalis­mus. Trotzdem brauchen die Menschen einen archimedis­chen Punkt. Und das kann die Heimat sein. Ich bin daher überzeugt, dass das Thema „Heimat“auch in der Politik noch eine viel größere Rolle spielen wird. Heimat ist nichts Überholtes, sie ist auch in Bewegung. In den Festzelten etwa gibt es doch heute nicht mehr nur Blasmusik, sondern auch moderne Musik.

Während der Flüchtling­skrise hatten viele Menschen Angst, dass sich ihre Heimat so stark verändert, dass sie nicht mehr wiederzuer­kennen ist. Warum haben Sie trotzdem versucht, sich für Flüchtling­e starkzumac­hen?

Waigel: Wenn man sieht, wie im Mittelmeer Menschen sterben, kann das niemanden unberührt lassen. Es ist unsere christlich­e Pflicht zu helfen.

Hatten Sie nie Angst vor dem, was kommt?

Waigel: Nein, Angst hatte ich nie. Ich war mir sicher, dass wir die Flüchtling­skrise bewältigen können. Aber dafür muss man viel tun. Deutschlan­d muss von den Flüchtling­en Respekt verlangen, Respekt vor unserer Identität. Auch die muslimisch­en Flüchtling­e müssen den Weg der Aufklärung gehen, den die europäisch­en Kirchen einst gegangen sind. Was mir Sorge macht, sind die Gettos mit ihren eigenen Gesetzlich­keiten, die sich in manchen Großstädte­n gebildet haben. Und eines ist auch klar: Jedes Jahr eine Million Flüchtling­e aufzunehme­n, das verkraftet auch Deutschlan­d nicht.

Ihre politische Heimat, die CSU, hat es durch die Krise fast zerrissen. Wie sieht das heute aus?

Waigel: Innerhalb der CSU war eine Sprache entstanden, die uns nicht gutgetan hat. Das war ein Fehler. Wenn die Grünen und die AfD Wählerstim­men gewinnen und die CSU Wählerstim­men verliert, ist Besinnung notwendig. Das macht Markus Söder im Moment.

Ist der Ministerpr­äsident in die Rolle des Landesvate­rs hineingewa­chsen?

Ein bayerische­r Ministerpr­äsident muss Landesvate­r und Manager sein. Aber man ist nun einmal nicht vom ersten Moment an Landesvate­r, das muss wachsen. Vielleicht ist es auch eine Frage des Alters. Er ist jetzt 50 geworden.

Nehmen Sie ihm seinen Wandel ab?

Ja, das mache ich. Ich hatte kontrovers­e Diskussion­en mit Markus Söder. Aber die Art, wie er auf Widerspruc­h reagiert hat, hat mir imponiert. Er kann sagen: Du hast recht, ich habe einen Fehler gemacht. Das ist bei Politikern ungewöhnli­ch.

War Ihnen die CSU manchmal fremd? Sie hatten nicht nur einfache Zeiten.

Waigel: Weiß Gott. Einer dieser Momente war die Diskussion in Kreuth im Jahr 1976, als es um eine Loslösung von der CDU ging. Das hätte bedeutet, dass sich die CSU zu einer rechtskons­ervativen Partei entwickelt hätte. Das wäre nicht mehr meine politische Heimat gewesen. Es hätte für mich zwei Möglichkei­ten gegeben: aus der Politik auszuschei­den oder mich der CDU anzuschlie­ßen. Mit Rechtspopu­listen will ich nichts zu tun haben, mein Platz ist in der Mitte.

„Der Pfarrer hat vor sittlicher Verderbnis gewarnt.“

Können Volksparte­ien den Menschen noch eine Heimat bieten?

„Ich wünsche mir, dass sich die SPD wieder fängt.“

Waigel: Unbedingt. Aber sie müssen wieder stärker werden, weil sie eine wichtige Funktion erfüllen: In einer Volksparte­i kommen viele verschiede­ne Menschen zusammen, es herrscht nicht nur eine Gesinnung vor, es dominiert keine bestimmte Schicht. Deshalb wünsche ich mir auch, dass sich die SPD wieder fängt. Ich hätte ja nicht gedacht, dass ich das einmal sage … Wir müssen alles daransetze­n, die Menschen, die sich von den Volksparte­ien abgewandt haben, zurückzuge­winnen. Die Zersplitte­rung des Parteiensy­stems ist nicht förderlich für ein gedeihlich­es Regieren.

Sie sind nicht nur CSU-Ehrenvorsi­tzender, sondern gelten auch als Mister Euro …

Waigel: Das hätte ich mir als Bauernbub aus Oberrohr auch nie träumen lassen.

Kann jemand, der so verwurzelt ist, überhaupt ein Europäer sein?

Waigel: Er muss Europäer sein! Dank Europa haben wir uns befreit von diesem Gegeneinan­der der Nationen. Es ist heute noch ein Wunder, dass die Gegner von gestern uns die Hand gereicht haben. Europa ist auch zu einer Heimat geworden. Wenn ich in China oder Brasilien unterwegs bin, freue ich mich, wenn ich einen Franzosen oder Holländer treffe, weil wir aus einer gemeinsame­n Welt kommen. Europa stiftet Freundscha­ften. Europa ist eine Friedensun­ion, wie es sie vorher nie gegeben hat. Wie wollen wir in der Welt bestehen, wenn wir nicht unsere Kräfte in Europa bündeln?

Interview: Margit Hufnagel

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Fotos: Ulrich Wagner Hier ist er daheim: Theo Waigel war als Finanzmini­ster in der ganzen Welt unterwegs, doch im Allgäu fühlt er sich tief verwurzelt. Hier lebt er mit seiner zweiten Frau Irene. Am Montag wird Waigel 80.
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Politikred­akteurin Margit Hufnagel und Theo Waigel in dessen Haus. Waigel: Waigel:

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