Diese Woche Eine Kirche macht sich in die Zukunft auf
Bei den Protestanten stehen die Signale auf Aufbruch. Mit neuen Führungspersonen beginnt ein Reformprozess, der stärker auf die Menschen von heute achtet. Weniger Aktion könnte mehr Sein bringen
Auf Aufbruch stehen die Zeichen in der evangelischen Kirche hier in Augsburg. Der neue Regionalbischof Axel Piper hat gerade seine ersten hundert Tage vollendet und der neue Stadtdekan Michael Thoma hat sich gerade drei Wochen in die Stadt eingewöhnen dürfen. „Als Kirche müssen wir Räume öffnen und gestalten, damit Menschen etwas von Gottes Offenheit und Nähe für die Welt entdecken können“, sagte Stadtdekan Thoma in seiner Antrittspredigt. Was für ein Programm für eine Kirche, die sich nicht selbst genügt!
Das ist schon ein Stück in dem soeben gestarteten Zukunftsprozess „Profil und Konzentration“der bayerischen evangelisch-lutherischen Landeskirche. „Wir nehmen einen doppelten Perspektivwechsel vor“, erklärt der Gersthofener Dekan und Synodale Stefan Blumtritt.
„Wir fragen uns: Was ist unser Auftrag, unsere Aufgabe? Und wir verlassen den selbstgesetzten Anspruch geistlicher Vollversorgung hin zu einer Haltung des Säens und Wachsenlassens.“
Es geht also nicht mehr darum, unter Aufbietung aller Kräfte das Bestehende trotzig in vollem Umfang zu bewahren – obwohl sich die Erfordernisse in der Gegenwart drastisch geändert haben. Sondern darum, Bedürfnisse und Ressourcen jeweils vor Ort zu bestimmen und damit kirchlich zu handeln. Die Gemeinden werden sich fragen: Welche Talente schlummern unter uns? Wer wartet darauf, dass die Kirche ihn aufsucht? Und in welcher Form? So kann weniger Aktionismus, der zwangsläufig sich erschöpft und ins Leere läuft, zu mehr Sein und mehr Fülle werden.
Am gelebten Leben der Menschen möchte sich die evangelische Kirche orientieren. Wo ein Kind geboren wird, wo Jugendliche heranreifen, wo sich ein Paar gegenseitig verspricht, wo Sterben und Tod zur persönlichen Realität werden, möchte sie Menschen spirituell beBedürfnisse, gleiten. Die Zeitgenossen werden zunehmend weniger kirchlich-religiös aktiv sein und vielleicht nur in besonderen Lebenslagen etwas von der Kirche erwarten.
Auch ihnen in verständlichen Worten und glaubwürdiger Haltung Jesus Christus als den liebenden Gott nahe zu bringen, dazu sieht sich Dekan Blumtritt heute herausgefordert. Vertrauen bilden könne die Kirche, indem sie Gottes Zuwendung spürbar macht – in persönlicher Segnung und in wohltuenden Ritualen, die nicht zuletzt eine tiefere Gemeinschaft stiften.
Der neue Stadtdekan Michael Thoma zielt auf noch mehr. Ihm ist die Hinwendung zu den Menschen, die Aufmerksamkeit für die Armen und Schwachen und der aktive Einsatz für sie wichtig. „Wir als Christen wenden uns zu und haben Zeit. Wir hören zuerst auf die dann handeln wir“, erklärte er. Was für ein anspruchsvolles Versprechen! Zumal Michael Thoma neben den Profis von der Diakonie dafür auch die Kirchengemeinden in die Pflicht nimmt.
Sich dem konkreten Menschen zu widmen, seinen Nöten abzuhelfen und sein Klagen mitzutragen, das kann recht mühsam und frustrierend sein. Sicher braucht es dazu professionelle Anleitung und verlässliche Begleitung, um nicht sich selbst zu verzehren. Auf Pfarrerinnen und Pfarrer kommt mithin die neue Aufgabe zu, als Coach ihrer Ehrenamtlichen zu wirken. Diese sollen in Zukunft nicht mehr die „Helfer“sein, um die Ziele der Gemeindeleiter umsetzen. Sondern selbstständig die Felder beackern, wozu sie sich befähigt fühlen.
Der Zukunftsprozess „Profil und Konzentration“, den die Frühjahrssynode 2019 in Lindau endgültig beschlossen hat, wird manches Gewohnte hinwegfegen. Dekan Blumtritt hält manches für denkbar: Der Gottesdienst kann doch auch mal in der Natur stattfinden – beste Erfahrungen liegen mit den Berggottesdiensten vor – oder zu neuen Zeiten am Abend oder ganz früh morgens, weil bestimmte Besucher dann empfänglicher sind für das Religiöse.
Jede Gemeinde wird das Ihre entwickeln. Der Prozess verlagert etliche Entscheidungen von oben nach unten. Die mittlere Ebene der Dekanate wird künftig planen, wozu sie ihr Stellenkontingent der Landeskirche einsetzt. Das befreit von den Fesseln überkommener Strukturen. Talente können sich entfalten – für die Krankenseelsorge, den Schulunterricht, die Jugendarbeit, die Citykirche, die Diakonie…
Aufbruch löst immer auch Ängste aus, dass auf nichts mehr Verlass ist und womöglich nicht Besseres nachkommt. Es wird Geduld erfordern, die richtigen Maßnahmen der Erneuerung zu treffen, um in einer sich rasch wandelnden Gesellschaft am Puls zu bleiben. Hier hat die evangelische Kirche den Vorteil, dass auf Synoden viele Mitglieder bei den Entscheidungen auch mit ihren Bedenken mitreden dürfen und letztlich mitbestimmen, wie viel Aufbruch es denn sein soll.
Pfarrer werden zum Coach ihrer Ehrenamtlichen