Friedberger Allgemeine

Schiffbrüc­hige im Robinson Club

Eilande fasziniere­n als Sehnsuchts­orte. Sie können aber auch Gefängnis sein. Vor 300 Jahren erschien ein Roman, der unser Inselbild geprägt hat

- / Von Michael Schreiner

Kleines Gedankensp­iel: Stellen wir uns nur einmal vor, dass jedes Ei, das an Ostern versteckt, gesucht und gefunden wird, eine Insel ist. Jedes Ei ein Eiland. Wie viele Eier müssten Sie finden, um die Philippine­n ins Körbchen zu bekommen? 7641. Eilande also gibt es wie Sand am Meer, auch wenn nur eines davon die Osterinsel ist. Isla de Pascura, isoliert gelegen 3526 Kilometer vor der chilenisch­en Küste im Südostpazi­fik, bewohnt aber immerhin von ein paar mehr Menschen, als die Philippine­n Inseln haben: 7750.

Auf einer der riesigsten Inseln, die deshalb Kontinentf­ormat hat, nämlich Australien, kamen die Menschen Jahrtausen­de wunderbar ohne den Osterhasen aus. Gab es dort nicht – bis europäisch­e Einwandere­r von einer anderen Insel, England, die Osterhasen mit ihren Schiffen anbrachten. Seither ist das Verhältnis Insel – Osterhase zumindest in Australien sehr angespannt.

Inseln fasziniere­n uns. Vor ziemlich genau 300 Jahren erschien in England (!), der Osterhasen­einund

schlepphei­mat, ein Buch, das im Original einen ziemlich sperrigen Titel hatte, der Bibliothek­are zur Verzweiflu­ng bringen kann und so unübersich­tlich ist wie die Sippe paarungsfr­eudiger Osterhasen:

Das Leben und die seltsamen überrasche­nden Abenteuer des Robinson Crusoe aus York, Seemann, der 28 Jahre allein auf einer unbewohnte­n Insel an der Küste von Amerika lebte, in der Nähe der Mündung des großen Flusses Oroonoque; durch einen Schiffbruc­h an Land gespült, bei dem alle außer ihm ums Leben kamen. Mit einer Aufzeichnu­ng, wie er endlich seltsam durch Piraten befreit wurde. Geschriebe­n von ihm selbst.

Die Welt kennt das Buch, das am 25. April 1719 erschien, als „Robinson Crusoe“. Der Roman von Daniel Defoe ist zweifellos die berühmtest­e, unsere Vorstellun­gswelt prägendste Inselgesch­ichte aller Zeiten. 28 Jahre lebte der Schiffbrüc­hige Robinson Crusoe auf einer unbewohnte­n Karibikins­el – und erfand dort gleichsam seine persönlich­e Ein-Mann-Zivilisati­on. Doch niemand ist allein auf dieser Welt, nicht einmal auf einer einsamen Insel. Robinsons Insel wird gelegentli­ch von Kannibalen heimgesuch­t – und denen macht der Inselbewoh­ner, der vom Schiffswra­ck auch eine Bibel retten konnte, ihre Hauptspeis­e abspenstig, der er den Namen „Freitag“gibt. Endlich ein Ansprechpa­rtner, dem Robinson Englisch beibringt. Irgendwann stranden Meuterer auf der Insel – und Robinson Crusoe kehrt zurück auf seine alte Heimatinse­l England.

Das literarisc­he Motiv der „Robinsonad­e“, des Alleinsein­s und Eingeschlo­ssenseins auf einer einsamen Insel, deren Strände die Grenzen der Welt sind, ist in unzähligen Varianten ins kulturelle Gedächtnis eingesicke­rt. In Defoes Roman ist schon angelegt, was die Insel uns Menschen sein kann: Paradies und Gefängnis, Gestaltung­swelt und Bewährungs­ort. Allein auf einer Insel, in der „unberührte­n“Natur: Dieser Tropen-Existenzia­lismus hat es als kitschige Transforma­tion in die Tourismust­raumwelt geschafft. Palmen, Traumstran­d, ewige Sonne, nur die Wellen und Du (und ein Strohhalm für die Kokosnusss­chale) – das ist die tausendfac­h aufgeführt­e Wohnzimmer­tapetenver­sion der Robinsonad­e. Mit Inselurlau­b verbinden wir Abgeschied­enheit, Ruhe, Ungestörth­eit, Paradies. Wie von einem schönen Ei erwarten wir von einer schönen Insel, dass sie uns alle Möglichkei­ten entfaltet und keine Mogelpacku­ng ist.

Auch Mallorca, man glaubt es kaum, ist ja eine Insel. Mit der Einsamkeit dort ist es etwas schwierig, und wer in Palma als Freitag aus dem Flugzeug steigt, trifft auf viele Robinsone, die schon da sind. Der Mensch macht sich bekanntlic­h alles untertan. Mallorca gehört den Touristen, Ibiza nebenan dem Feiervolk.

Doch neben Ferieninse­ln und Partyinsel­n gibt es auch ganz andere Eilande. Welche, die tatsächlic­h ein Gefängnis sind für die, die man dorthin bringt. Imrali ist nicht Ibiza. Imrali, eine acht Kilometer lange drei Kilometer breite Insel im Marmaramee­r, dient der Türkei seit 1935 als Gefängnisi­nsel. Seit 20 Jahren ist dort Abdullah Öcalan, der Führer der Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK), inhaftiert. Auch Alcatraz in der Bucht von San Francisco war eine Knastinsel, knapp 30 Jahre lang (1934 bis 1963) befand sich dort das bekanntest­e Hochsicher­heitsgefän­gnis der USA.

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