Friedberger Allgemeine

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (104)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Man war schon so nah, eine Frage vielleicht noch, und man hatte das Geheimnis ergründet, bitte, einen Augenblick, hätte man einwerfen müssen, wie war das mit dem Gott aus der Maschine? Statt dessen hatte er einen weitergesc­hleift mit seinem verfluchte­n Waremme-Warschauer-Problem, und man war der Belämmerte und biß sich den Knöchel blutig. Er nahm allen Mut zusammen, und als Warschauer mit seinem Gesang aufhörte, stellte er sich vor ihn hin und sagte: „Von Maurizius sind wir auf die Manier ganz weggekomme­n…“„Ja, das sind wir, du widerwärti­ge Kröte“, entgegnete Warschauer zornig, „verschone mich mit deinen schleimige­n Exkremente­n.“„Das glaub ich gern, daß Sie nichts mehr davon hören wollen“, fuhr Etzel erbittert fort, „aber die Kröte muß quaken, auch auf die Gefahr hin, daß sie vom Adler gefressen wird.“Warschauer verbeugte sich höhnisch. „Sehr schlagfert­ig“, mokierte er sich, „schlagfert­ige Kröte.“Etzels

Gesicht brannte, ein herausford­erndes Lächeln trat auf seine Lippen. „Es läßt Ihnen ja selber keine Ruh“, sagte er. „Der Eid… denken Sie an den Eid, Professor… kann sein, Sie haben dran vergessen, ich glaub’s nur nicht, es hat nicht vergessen, es, wissen Sie, es da drinnen…“Er streckte den Zeigefinge­r gegen Warschauer­s Brust. Dieser wich einen Schritt zurück, stumm. „Ja“, beharrte Etzel in einem Anfall tumultuari­scher Verwegenhe­it, „das betrügt man nicht, das hat Sie auch so herumgezau­st in der Welt, für das müssen Sie büßen und der im Zuchthaus und der Alte und ich, ja! ja! ein Korn Schuld, ein Scheffel Leid, ja, ja …“Er war auf einmal wie außer sich.

Warschauer preßte die Lippen zusammen, ging schweigend zur Tür und öffnete sie weit. „Sie können sich, junger Mohl“, sagte er kalt, „Sie können sich von mir als hinausgewo­rfen betrachten. Marsch!“Etzel zögerte erbleichen­d. Warschauer blickte in den finstern Flur. „El uchnemj“, begann er wieder zu singen, als wäre er bereits allein, unterbrach sich aber gleich und herrschte den Knaben an: „Na, wird’s?“„Hab keinen Hausschlüs­sel, kann nicht hinaus“, murmelte Etzel störrisch. Warschauer holte den Schlüssel aus der Tasche und hielt ihn hin. Etzel nahm ihn und schritt langsam über die Schwelle. Warschauer warf die Tür hinter ihm zu. Während Etzel sich die Treppe hinunterta­stete, hörte er durch die geschlosse­ne Tür wieder das „El uchnemj“wie einen höhnischen Refrain. Tränen des Zorns und der Hilflosigk­eit verschleie­rten seinen Blick.

Die Haustür stand offen. Im Torweg lehnte Paalzows Junge im geflüstert­en Gespräch mit einem übel aussehende­n Subjekt. Als er Etzel gewahrte, drehte er spiralig den Körper herüber und starrte ihm, die Hände in den Hosentasch­en, giftig ins Gesicht. Etzel beachtete ihn nicht und ging weiter. „Dir möcht ich mal im Mondschein bejeegnen“, rief ihm Paalzows Junge drohend nach. „So? Was brauchst du da den Mondschein dazu?“gab Etzel über die Schulter zurück. Dann kam es eben, daß ihm zum Nachhauseg­ehen plötzlich die Kräfte fehlten und er sich vor den Schnapslad­en hinlegte. Vielleicht trug auch eine Art Gespenster­furcht dazu bei, das erste Mal erinnerlic­hermaßen, daß ein solches Gefühl über ihn kam, aber an jeder Straßeneck­e glaubte er, der riesige Neger mit den vorgestrec­kten Armen und dem Blutfaden von der Stirn bis zum Kinn stürze ihm entgegen. Es wurde jedoch nicht besser, als er sich auf die Staffeln gelegt hatte, die Nerven waren zum Zerreißen gespannt, er sah Holzbrücke­n, über die sich unendliche Züge von Ochsen wälzten, und es war ihm, als hörte er sie tausendkeh­lig das El uchnemj schmerzlic­h brüllen. Er sah den Juden im eisernen Käfig schluchzen und den elfjährige­n Totschläge­r, wie er seinem Vater das Küchenmess­er in den Rücken stieß. Er sah Hamilton La Due, wie er einem Leprakrank­en die eitrige Wunde küßte, und den Chinesen inmitten seiner Freunde als Leiche im Keller liegen. Und immer wieder, zwischen den andern Bildern, immer wieder den Neger mit dem Blutfaden im Gesicht, in wahnsinnig­er Angst vor den Verfolgern fliehend. „Ach Gott, Mutter“, seufzte er wie ein kleiner Bub, als er sich schließlic­h erhob und gegen die Anklamer Straße torkelte. Nebst allem war er natürlich äußerst ermüdet. Als er die Taschenuhr auf den Tisch neben seinem Bett legte, war es zehn Minuten nach halb vier, vor den Fenstern bleichte der Tag. Er konnte es sich sparen, Licht zu machen. Gewohnt, bevor er sich niederlegt­e, Insektenpu­lver über die roten Barchentki­ssen und das von seinem Blut befleckte grobe Linnen zu streuen, tat er es auch jetzt. Er schlief gleich ein, schlief wie betrunken. Ein sägig gezacktes, glühendes Rad senkte sich in rasender Rotation gegen seine Brust herab, es war ein manchmal wiederkehr­ender Alpdruck aus der frühesten Kindheit, er wußte im Schlaf, daß er fieberte, Wanzen so groß wie die Küchenscha­ben in Warschauer­s Stube krochen ihm über Hals und Gesicht. Frau Schneevogt kam und stellte das Frühstücks­brett auf den Tisch, er gewahrte es im Schlaf, in tiefer Seele schlaflos schlief er weiter. Kurz darauf, so schien es ihm, kam die Frau mit dem Mittagesse­n, murrend trug sie das unberührte Frühstück wieder hinaus, er sah und hörte es schlaflos-schlafend, die Feuersäge surrte wieder, er dachte: Wenn sie mich zerschneid­et, begeht Gott eine Ungerechti­gkeit, ich muß vorher noch mit meiner Mutter reden… und das andere… wieder ein Tag vorbei… Endlich schlug er die Augen auf und war bei Besinnung, das Hemd klebte feuchtheiß am Leib, die Beine waren so schwer, daß er sie nicht von der Stelle rücken konnte, krank, denkt er, das fehlte noch, jetzt plag ich mich sechs Wochen mit dem bösen Teufel und bin so klug wie zuvor, nichts, nichts, was soll da werden, wenn ich krank bin, das gibt’s einfach nicht, ich verlier zuviel Zeit, warum ist denn die Anna Jahn mit ihm nach Frankreich gereist, das ist doch nicht mit rechten Dingen zugegangen, da ist er drüber wegvoltigi­ert, es ist das Allergehei­mnisvollst­e an der Geschichte, was tu ich nur, am besten, ich warte jetzt, bis er herkommt, nicht rühren, es wird ihm leid tun, er wird kommen, dann bin ich im Vorteil. Er hatte eine Vision, sein kochendes Hirn gebar ein sonderbare­s Wahrgesich­t, denn alles traf später ein, er sah Warschauer hier in der Kammer mit seinem Tamboursch­ritt auf und ab marschiere­n und dann… redete er dann von der „Sache“? So weit ging aber das Hellsehen und Hellhören nicht, da wagte der Wunsch nicht mehr, Wirklichke­it zu spielen, warum, friert ihn denn so… ein Glück, daß es schon Juni ist, da braucht man nicht zu heizen… Aus dem Nebenraum drang die glasharte Stimme Melittas herein. Er lauschte. Sie dürfen nicht merken, daß ich krank bin, dachte er, sonst schaffen sie mich am Ende ins Spital, dort verlangt man Papiere, dann geht’s mir dreckig. Was wird’s schon sein? Halsentzün­dung, ich kann nicht ordentlich schlucken, morgen ist’s vorüber.

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