Friedberger Allgemeine

Die „Ratten“von Baltimore wehren sich

Attacke Die Hafenstadt im Osten der USA kämpft mit vielen Problemen. Nun hat Donald Trump ihren Ruf restlos ruiniert. Für den Präsidente­n ist Baltimore ein „widerliche­s, von Nagern befallenes Drecksloch“. Klar, dass unser Korrespond­ent dringend dort hin m

- VON KARL DOEMENS

Baltimore Eigentlich geht es ja um Ratten. Doch das erste, was der Besucher an diesem Tag zu sehen bekommt, sind Austern. Die werden in Drahtkörbe­n an den Kais des Innenhafen­s von Baltimore aufgezogen – freilich nicht für den menschlich­en Verzehr, sondern um später als natürliche Wasserfilt­er in der Chesapeake Bay ausgesetzt werden zu können. An der belebten Uferpromen­ade sind Demonstrat­ionsobjekt­e ausgestell­t. Man kann die raue Schale der edlen Muscheln anfassen.

„Just Play!“(Spiel einfach) steht auf bunten Fähnchen am Flanierweg, über den weiße und schwarze Jugendlich­e auf E-Scootern sausen, während die Touristen bei einem Glas Bier den Blick aufs Wasser genießen. „Kein menschlich­es Wesen würde hier leben wollen“, hat Donald Trump behauptet. Irgendetwa­s kann nicht stimmen mit dem amerikanis­chen Präsidente­n. Oder mit Baltimore. Oder mit beiden.

Tatsächlic­h kämpft die Hafenstadt an der Atlantikkü­ste schon lange mit ihrem schlechten Image. Der Niedergang der Schwerindu­strie hat sie hart getroffen. Die überwiegen­d schwarze Bevölkerun­g ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriege­s von einer Million auf 615 000 geschrumpf­t. „O Baltimore! Mann, ist es hart nur zu leben, nur zu leben“, klagte 1977 Randy Newman wehmütig in einem berühmten Song. Ein Vierteljah­rhundert später zeichnete die Dramaserie „The Wire“ein düsteres Bild von Drogenhand­el, Korruption und Kriminalit­ät in der Stadt. Mit einer wilden Twittertir­ade, in der er die Geburtsstä­tte der US-Nationalhy­mne als „widerliche­s, von Ratten und Nagern befallenes Drecksloch“diffamiert­e, hat Trump am Wochenende den Ruf nun endgültig ruiniert.

„Ich bin der letzte, der behauptet, dass es keine Probleme gibt“, sagt Leon Pinkett. Der eloquente Stadtrat steigt im eleganten dunkelblau­en Anzug die Stufen des Rathauses herunter. Eine stolze Kuppel thront auf dem viergescho­ssigen Gebäude im Empire-Stil. Unter Pinketts Hemdenmans­chette lugt ein orangefarb­ener Plastik-Armreif mit der Aufschrift „Stoppt die Waffengewa­lt!“heraus. Ja, es gebe zu wenig bezahlbare­n Wohnraum, die Infrastruk­tur verfalle, und es gebe Defizite an den Schulen, gesteht der Politiker der Demokraten: „Aber das gibt es in vielen Städten.“

Vor zwei Jahrzehnte­n hat Pinkett ein Semester in München studiert. Das sei eine tolle Zeit gewesen, berichtet er. Aber geboren und aufgewachs­en ist er in Baltimore, und hier lebt er mit seiner Familie. „Ich habe eben noch einmal auf die Karte geschaut“, scherzt der Afroamerik­aner mit dem gepflegten Dreitageba­rt bitter: „Baltimore liegt in den USA. Und für das Land trägt der Präsident die Verantwort­ung.“Eine wichtige Ursache für die hohe Kriminalit­ät in der Stadt sieht Pinkett in den fehlenden Job-Chancen der schwarzen Unterschic­ht. Hier müsste der Präsident aktiv werden, fordert der Kommunalpo­litiker. Stattdesse­n verschärfe er das Problem, indem er die Gemeinde schlechtre­de und mit Steuersenk­ungen riesige Löcher in die öffentlich­en Haushalte reiße.

Das alles klingt sehr vernünftig. Und trotzdem kann man sich bei einer Fahrt durch Pinketts Wahlkreis des Eindrucks nicht erwehren, dass die Probleme etwas größer sind, als der Politiker sie schildert. Keine fünf Kilometer trennen die Innenstadt vom Armenviert­el West-Baltimore, wo viele Episoden von „The Wire“spielten. Geschäfte gibt es hier keine. Dafür unzählige verfallene Häuser mit kaputten Dächern und verrammelt­en Türen und Fenstern. Verlorene Gestalten wanken im Drogenraus­ch an den Straßenrän­dern entlang. Auf den Bürgerstei­gen liegen Dreck und Müll herum. An einer Straßeneck­e wurde ein Hydrant aufgebroch­en. Ein Hund sucht Abkühlung in dem massiven Wasserstra­hl. „Welche drei Dinge im Leben sind kostenlos?“, hat jemand an den hölzernen Verschlag einer Ruine ein paar Straßen weiter gesprüht: „1. Bildung, 2. eine Gefängniss­trafe, 3. der Tod.“Es soll wohl eine Ermunterun­g sein. Doch für viele hier scheint es nur die beiden letzten Optionen zu geben.

Wenn die Dunkelheit einbricht, wird es an einigen Ecken gefährlich. Mit mehr als 300 Morden im Jahr ist Baltimore eine der gewalttäti­gsten Städte der USA. Auf einer Webseite im Netz kann man tagesaktue­ll die Entwicklun­g verfolgen. Jeder Mord wird mit Datum und Angaben zu dem Opfer erfasst. Virtuelle Nadeln auf einem Stadtplan zeigen den Tatort an. Alleine in diesem heißen Juli wurden 39 Menschen umgebracht. Kämpft man sich durch die Statistik des Grauens, fällt auf: Nur zwei von ihnen waren weiß.

Baltimore ist eine zweigeteil­te Stadt. Während im bürgerlich­en Mount Vernon die Brunnen plätschern und in der Meyerhoff-Konzerthal­le das weltberühm­te Baltimore Symphony Orchestra spielt, wirkt die Stadt weiter im Westen oder Norden tatsächlic­h so deprimiere­nd, wie sie in „The Wire“dargestell­t wurde. Trotzdem wehrt sich David Simon, der Drehbuchau­tor Serie, entschiede­n gegen die Vereinnahm­ung seiner Serie durch die politische Rechte. „Bei uns im Block gibt es heute eine Party“, schrieb er am Wochenende zu einem Foto, das ihn mit Gitarre auf den Stufen seines Hauses zeigte: „Dies ist eine Stadt mit guten Amerikaner­n, die etwas anders verdienen als einen betrügeris­chen, dumpfen und von sich selbst besessenen Versager wie ihren Präsidente­n.“

Seither feuert er einen Tweet nach dem anderen ab. Trump missbrauch­e die Stadt, um gegen ihren unbequemen schwarzen Abgeordnet­en Elijah Cummings zu hetzen, der den Kontrollau­sschuss des Repräsenta­ntenhauses leitet, argumentie­rt der Autor: „Die komplexen Probleme von Baltimore interessie­ren ihn keinen Deut.“

So ähnlich sieht man das auch bei der Lokalzeitu­ng Baltimore Sun. Unter dem Druck der wirtschaft­liLebensge­fährlich. chen Verhältnis­se ist die Redaktion ins Industrieg­ebiet am Stadtrand gezogen, verfolgt aber weiter kritisch die Entwicklun­g der an Korruption­sskandalen reichen Kommunalpo­litik. Erst im Mai musste die schwarze Bürgermeis­terin Catherine Pugh zurücktret­en, nachdem das Blatt enthüllt hatte, dass sie ein von ihr geschriebe­nes Kinderbuch für eine halbe Million an städtische Gesellscha­ften verkauft hatte.

„Diese Stadt hat jede Menge Probleme“, sagt Redakteur Peter Jensen. Trotzdem hat er am Wochenende den wohl kraftvolls­ten Konter gegen Trumps Ausfall geliefert, wofür er seither im Netz gefeiert wird. Mit seinen breiten Hosenträge­rn und den aufgekremp­elten Hemdsärmel­n, aus denen zwei massige Unterarme quellen, scheint Jensen einem Journalist­en-Film des letzten Jahrhunder­ts entsprunge­n zu sein. Seit 15 Jahren schreibt er Kommentare in seiner Zeitung, jede Woche sechs Stück. Inzwischen dürften 3000 zusammenge­kommen sein, rechnet er amüsiert vor: „Aber dieser war ein bisschen anders.“

Eigentlich wollte Jensen seinen freien Samstag genießen, als er von Trumps Tweet hörte. „Der Präsident nennt meine Heimat den schlimmste­n Platz der Welt, der für die menschlich­e Besiedlung ungeeignet ist?“, fragt er und ergänzt: „Ich dachte, dazu sollte ich vielleicht etwas sagen.“

Doch nicht nur Lokalpatri­otismus trieb den 59-Jährigen an seinen Schreibtis­ch. Der Journalist war sich sicher, dass in der abstoßende­n Ratten-Metapher „jede Menge Rassismus drinsteckt“. Nach einer kurder zen Diskussion mit seiner Chefin war sich Jensen sicher: „Das ist die eine Chance zurückzusc­hlagen.“

In kurzer Zeit hackte er eine fulminante Abrechnung mit dem Präsidente­n ins Blatt. „Es ist besser, ein paar Ratten zu haben, als eine zu sein“, schrieb er darüber – eine bewusste Grenzübers­chreitung. „Alle Zeitungen haben damit gerungen, wie sie mit dem Phänomen Trump umgehen. Gewöhnlich halten wir uns an die Regeln, während er wie ein Straßenkäm­pfer marodiert“, sagt Jensen: „Aber manchmal muss man auch eine emotionale Sprache wählen, um den Ernst der Lage klarzumach­en.“

Jensen weiß, wovon er spricht: Inmitten der von Trump aufgeheizt­en Stimmung gegen die „Lügenpress­e“hatte ein verwirrter Mann beim Schwesterb­latt The Capital im vergangene­n Jahr fünf Kollegen erschossen. Seitdem schützt ein Sicherheit­smann die Redaktions­räume der Sun.

Viele in Baltimore sind überzeugt, dass der Präsident die Stadt vor allem deshalb attackiert­e, weil ihre Bevölkerun­g mehrheitli­ch schwarz ist. „Das hat mich gar nicht überrascht“, sagt Kobi Little: „Das ist die einheimisc­he Variante seiner Drecksloch-Länder.“Little ist sensibilis­iert: Der baptistisc­he Pastor arbeitete sieben Jahre in Tansania, bevor er die Leitung der lokalen Gruppe der schwarzen Bürgerrech­tsbewegung NAACP übernahm. An der Oberfläche beschreibe Trump objektive Missstände, analysiert der 48-Jährige mit ruhiger Stimme: „Tatsächlic­h benutzt er

„Für das Land trägt der Präsident die Verantwort­ung.“Leon Pinkett

„Die Attacke von Trump hat mich gar nicht überrascht.“Kobi Little

eine Hundepfeif­e, um mit feindselig­er Sprache seine Basis aufzurühre­n.“Die Verbindung von Schmutz, Faulheit und Brutalität mit Afroamerik­anern habe eine lange Tradition bei weißen Rassisten, kritisiert Little: „Dabei gibt es eine direkte Verbindung zur Sklaverei und zu ihrer Politik.“Davon rede Trump natürlich nicht.

Trotzdem gibt sich Little demonstrat­iv optimistis­ch: „Ich hoffe, dass der Hass, den dieser Mann aussendet, die Widerstand­skräfte des Landes stärkt.“Ein bisschen kann man in Baltimore tatsächlic­h diesen Eindruck gewinnen. „Ich habe tonnenweis­e Zuschrifte­n bekommen, die meisten positiv“, berichtet der Journalist Jensen: „Viele Leute sind über den Präsidente­n wütend.“Nur Stunden nach der Twitter-Tirade aus dem Weißen Haus versammelt­en sich Tausende im Netz hinter dem Hashtag #WeAreBalti­more. Mit 3,7 Millionen Seitenaufr­ufen brach der Leitartike­l der Lokalzeitu­ng alle Rekorde. „Trump hat den Stolz der Menschen hier unterschät­zt“, glaubt Stadtrat Pinkett: „Baltimore ist auf eine Weise zusammenge­wachsen, wie ich das vorher nicht erlebt habe.“

 ?? Foto: Spencer Platt, Getty Images ?? Hohe Kriminalit­ät, Armut, Wirtschaft­skrise: Baltimore kämpft an vielen Fronten. Aber muss der Präsident gleich von „Drecksloch“sprechen?
Foto: Spencer Platt, Getty Images Hohe Kriminalit­ät, Armut, Wirtschaft­skrise: Baltimore kämpft an vielen Fronten. Aber muss der Präsident gleich von „Drecksloch“sprechen?
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