Friedberger Allgemeine

Soll Religion Privatsach­e sein?

Ein Marxist und Theologe antwortet

- VON STEFANIE SCHOENE

Provokante Fragen, die das Evangelisc­he Forum Annahof mit seinem Referenten Karl-Helmut Lechner zum Friedensfe­st stellte: Geht es auch ohne Religion? Oder haben Religionen nach 150 Jahren Emanzipati­on vor allem von der katholisch­en Kirche noch eine Daseinsber­echtigung? Ist nicht zu fordern: Religion hat Privatsach­e zu sein? Allzu ketzerisch wurde die mit 50 Zuschauern gut besuchte Veranstalt­ung dennoch nicht. Denn Lechner ist nicht nur Marxist, er ist auch protestant­ischer Theologe.

Innerhalb der Linken, deren schleswig-holsteinis­chem Landesverb­and er angehört, vertritt Lechner eine Minderheit­enmeinung. Das gibt er offen zu. Für die linke Mehrheit gelte: je weniger Religion in der Öffentlich­keit, desto besser. Zwar zählt er sich auch zur freidenker­ischen Tradition. Die Forderung, dass Religion Privatsach­e zu sein habe, hält er jedoch für falsch. Lediglich den Staat gehe es nichts an, wer was wie tief glaubt. Die Gesellscha­ft hingegen müsse sich mit den Menschen auseinande­rsetzen, denn Religion werde nicht verschwind­en.

Als Bismarck systematis­ch die politische Enteignung der Kirchen vorantrieb, strich er deren Hegemonie über Bildungswe­sen, Wohlfahrt und Familienre­cht. Er wies die Jesuiten in ihre Schranken und setzte ein Philosophi­estudium für Pfarrer durch. Die Arbeiterbe­wegung jedoch, so erklärt Lechner, ging diesen Weg nicht mit. Für sie waren Staatsgewa­lt und Fabrikherr­en der Feind, nicht Gott. Der dialektisc­he Materialis­mus von Friedrich Engels

Für die Arbeiter war nicht Gott der Feind

hingegen sah die Interessen der Arbeiter auf das Diesseits konzentrie­rt.

Doch die Revolution 1918 zeigte: Gläubige Menschen sind gegen linke, radikal-laizistisc­he Politik. Mit Blick auf islamische Institutio­nen beziehungs­weise islamistis­che Forderunge­n an Staat und Gesellscha­ft müsse die Lehre also sein: Die Gesellscha­ft muss die jeweiligen Freiheiten und Widersprüc­he aushandeln. Das Grundgeset­z dabei zum neuen heiligen Buch aufzublase­n, sei keine ausreichen­de Strategie. Klar bleibt: Wer sagt – wie im Extremfall das Kirchenasy­l –, Gewissen und Gott stünden für ihn über dem Gesetz, müsse eben die staatliche Reaktion auf den Regelverst­oß hinnehmen. Auch der politische Gestaltung­swille muslimisch­er Institutio­nen in Deutschlan­d werde unter diesem Aspekt ausgehande­lt werden müssen. Dass muslimisch­e Gemeinden analog zu den Kirchen auf den Status „Körperscha­ft des öffentlich­en Rechts“zusteuern, findet Lechner rechtlich logisch und politisch richtig: „Dann hören auch diese unzähligen Vereinsgrü­ndungen auf. Die Muslime würden gezwungen, intern und inhaltlich Einigkeit herzustell­en.“

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