„Neue Eskalationsstufe erreicht“
In München gibt es zwei Fälle von Judenhass in drei Tagen. Die Gemeindemitglieder sind verunsichert und fragen sich: Wie gefährlich ist die Lage?
München Eigentlich ist es eine hübsche Wohngegend, in der sich diese Synagoge der Israelitischen Kultusgemeinde in München befindet. Es ist ein hellgrau getünchtes, unscheinbares Wohnhaus direkt an der Stadtteilgrenze zwischen Maxvorstadt und Schwabing. Ein schönes Gebäude mit Erkern und verzierten Fenstern. In diesem Viertel leben Menschen verschiedenster Kulturen friedlich miteinander, sie gelten als weltoffen und liberal. Die Gegend ist ein Treffpunkt für die kulturelle Szene und gleichzeitig ein ruhiges und sicheres Wohngebiet. 2018 haben bei der Landtagswahl die meisten Menschen hier die Grünen, CSU und SPD gewählt. Hier ist das, was eine jüdische Familie am Wochenende erlebte, eigentlich schwer vorstellbar.
An der Kreuzung zwischen Wilhelmstraße und Hohenzollernstraße – man läuft eine gute Viertelstunde von der Synagoge dorthin – sind ein 53-jähriger Rabbiner und seine beiden 19-jährigen Söhne am Samstagnachmittag auf offener Straße Opfer von Judenhass geworden (wir berichteten). Laut Polizei beleidigte ein Mann die drei Männer als „scheiß Juden“, kurz darauf spuckte eine Frau einem der Söhne ins Gesicht und beschimpfte ihn.
Die Menschen, die an diesem Vormittag genau an dieser Kreuzung vorbeikommen, wundern sich, dass so etwas bei ihnen um die Ecke passiert ist. „Das hier ist eigentlich eine sehr ruhige Gegend, hier gibt es nie etwas“, sagt eine Frau, die gerade auf dem Weg zur Arbeit ist. Dem stimmt auch die Mitarbeiterin einer Boutique zu: „Hier ist es sehr harmonisch, eine schöne Nachbarschaft und ein gutes Miteinander.“Das finden auch die beiden Männer, die von Frankfurt nach München gezogen sind: „Die Menschen hier sind nicht fremdenfeindlich, wir sind ganz überrascht, wenn wir so etwas hören. Das hier ist eine untypische Ecke für solche Taten.“
Für die jüdische Familie war der Übergriff in Schwabing ein fürchterliches Erlebnis. Das berichtet Marian Offman, SPD-Stadtrat und Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde in München. „Ich habe vor kurzem mit der Familie gesprochen, sie sind alle wie erschlagen.“Vor allem ein Sohn sei schockiert. „Er kann nicht verstehen, wie jemand darauf kommt, ihn einfach so und auf offener Straße als ,scheiß Jude‘ zu beschimpfen.“
Offman hatte bisher den Eindruck, dass die Lage der Juden in München gut ist. „Aber diese Tat macht mich traurig und hat das Bild meiner Heimatstadt verändert.“Das Gleiche sagt auch Ludwig Spaenle, der Antisemitismus-Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung. „Wir müssen uns daran gewöhnen, dass sich Judenfeindlichkeit im Alltag immer weiter verschärft.“Marian Offman ergänzt: Einer Person ins Gesicht zu spucken, sei das Höchstmaß an Erniedrigung. „Wir haben eine neue Eskalationsstufe erreicht, die bedenklich ist.“
Zwei Tage nach dem Übergriff in Schwabing gab es wieder einen Fall von Antisemitismus. Nach Angaben der Polizei schmierten Unbekannte am Montagabend in das Treppenhaus von zwei Mitgliedern der jüdischen Gemeinde einen Davidstern. „Wir müssen uns von dem Gedanken entfernen, dass Judenhass nur etwas mit Gewalt zu tun hat. Auch Schmierereien und Beschimpfungen sind ein Angriff auf unsere Gemeindemitglieder“, sagt Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in München. „Nach den beiden antisemitischen Vorfällen sind die Menschen stark verunsichert, weil sie nicht einschätzen können, wie gefährdet sie sind.“München sei eigentlich eine sichere Großstadt. Aber diese Art von Judenhass „auf offener Straße, direkt vor der Haustür und in so einem offenen Viertel – das ist schon eine neue Qualität von Aggression“.
Einen ähnlichen Eindruck von der Tat hat auch Annette Seidel-Arpaci. Sie leitet „Rias“, die Rechercheund Informationsstelle Antisemitismus in Bayern. Sie sagt: „Wenn Juden beschimpft werden, dann schauen in der Regel alle weg und keiner setzt sich für die Opfer ein.“Bei diesem Fall aber hat jemand hingeschaut – sich allerdings auf die Seite des Täters gestellt. „Das ist erschreckend. Man hat den Eindruck, die Frau habe sich von den Beleidigungen des Mannes bestärkt gefühlt und sich auf dessen Seite geschlagen.“
Rias gibt es seit 1. April. Betroffene und Zeugen können dort antisemitische Angriffe melden. Bisher wurden 74 Fälle registriert, etwa die Hälfte davon ereignete sich in München.