Der „sprechende Baum“am Eiskanal
Eine mächtige Rotbuche liefert als erster Baum in Bayern ständig Daten fürs Internet. Sie geben darüber Auskunft, wie sie sich fühlt. Damit sollen die Folgen des Klimawandels für Bürger sichtbar werden
Den heimischen Bäumen geht es schlecht. Sie leiden unter großer Hitze und Wassermangel. Wie sehr ihnen der fortschreitende Klimawandel zusetzt, können Bürger in Augsburg ab sofort mitverfolgen. Am Eiskanal gibt es jetzt erstmals in Bayern eine „sprechende“Rotbuche. Sie teilt täglich im Internet mit, wie es ihr gerade geht – und was sie stresst.
Der rund 100 Jahre alte und etwa 30 Meter hohe Baum wurde so ausgewählt, dass er für Spaziergänger leicht zu finden ist. Er steht an der Brücke über den Hauptstadtbach zwischen dem Kanuleistungszentrum und dem historischen Wasserwerk. Er wurde technisch so ausgestattet, dass er ständig online seine aktuellen Vitaldaten übermittelt. Bürger können sie täglich abrufen.
Das Projekt „Baum 4.0“läuft am Lehrstuhl für Ökoklimatologie der TU München zusammen mit der städtischen Forstverwaltung und weiteren Partnern in Bayern. Den Hintergrund erklärt Professorin Annette Menzel, die auch wissenschaftliche Sprecherin des Bayerischen Netzwerkes für Klimaforschung ist. Sie sagt, die Auswirkungen des globalen menschengemachten Klimawandels seien auch hierzulande überall zu spüren. Wenn nicht gegengesteuert werde, sei ein Temperaturanstieg um vier Grad bis zum Jahr 2100 zu erwarten. Die aktuellen Hitzesommer würden dann wohl Mitte des Jahrhunderts zum Normalfall. Die Folge: Bei Temperaturen wie in der Provence oder an der Adria werde keine der heimischen Baumarten mehr überleben können. „Dann haben wir eher Lavendelfelder“, sagt Menzel.
Zweck des Projektes „Baum 4.0“ist es vor allem, der breiten Bevölkerung vor Augen zu führen, wie brisant die Lage ist. Forstreferentin Eva Weber sagt, ihr persönlich und auch den Augsburgern liege der Stadtwald sehr am Herzen. Deshalb sollen Bürger anschaulich informiert werden, wie es den Bäumen geht. Und so funktioniert es: Die sprechende Rotbuche wurde vom Boden bis hinauf zur Baumkrone mit Sensoren ausgestattet. Diese erfassen unten die Bodentemperatur und die Bodenfeuchte. Am Stamm wird ständig der Saftfluss von den Wurzeln in die Baumkrone ermittelt. Oben messen weitere Sensoren die Blatttemperatur und die Entwicklung der Buchenblätter. Darüber hinaus wurde eine Webcam installiert. Die Kamera beobachtet den Baum im Lauf der Jahreszeiten. Alle Daten werden gespeichert und einmal täglich ins Internet gestellt. Dort kann man ab sofort nachschauen, ob sich der Baum wohlfühlt oder ob er beispielsweise unter Hitze und Trockenstress leidet. Letzteres ist wahrscheinlicher. Der städtische Forstamtsleiter Jürgen Kircher sagt: „Ab 30 bis 35 Grad leidet der Wald brutal.“Heimische Baumarten wie Kiefern, Buchen, Eichen, Eschen oder Ulmen hätten große Probleme bei hohen Temperaturen. Wegen des Eschentriebsterbens waren zuletzt umfangreiche Fällungen nötig. In Augsburg habe es glücklicherweise in diesem Sommer viel geregnet, so Kircher. In einem weiter entfernten städtischen Revier in der Oberpfalz seien die Fichten auf Basaltfels in der Hitze aber geradezu verbrannt. Dabei ist die Stadt Augsburg seit vielen Jahren aktiv, um ihre Wälder mit Blick auf den Klimawandel umzubauen. Das große Ziel ist ein gestufter, stabiler Mischwald. Kircher sagt, teils würden auch hierzulande neue Baumarten gepflanzt, die mit hohen Temperaturen und Trockenheit besser zurechtkommen. Auch Forstreferentin Weber betont, Waldpflege sei für die Stadt schon sehr lange ein wichtiges Thema. Bei Diedorf sei vor etwa 100 Jahren ein Exotenwald gepflanzt worden, um zu sehen, welche Bäume sich durchsetzen.
Die Stadt Augsburg ist für Wissenschaftler der TU München auch aus einem anderen Grund ein wichtiger Partner. Sie ist die Kommune mit dem größten Waldbesitz in Bayern. Und „Baum 4.0“ist Teil des größeren bayernweiten Verbundprojektes BAYSICS für Klimaforschung und Wissenschaftskommunikation. „Sprechende“Bäume sollen bald auch an anderen Orten in Bayern stehen: In München, in Eichstätt und Berchtesgaden. Professorin Menzel sagt, sie seien nicht nur zur Information der Bevölkerung gedacht, langfristig sollen sie auch der Forschung dienen. Durch die unterschiedlichen Standorte im Freistaat können klimatische und lokale meteorologische Effekte gemessen und verglichen werden. Beispielsweise könne man an der Augsburger Rotbuche schon jetzt ablesen, welche Entwicklung Bäume im Berchtesgadener Raum in Zukunft nehmen werden.
Die Rotbuche am Augsburger Eiskanal ist darüber hinaus Teil des stadtweiten Mitmach-Programms „Augsburg atmet – fürs gute Leben in der Stadt“. Dort soll über Projekte aus den Bereichen Mobilität, Luftreinhaltung, Nachhaltigkeit, Umwelt und Klimaschutz verständlich informiert werden, damit möglichst viele Menschen mitmachen. ⓘ
Die Messdaten der Rotbuche am Eiskanal findet man im Internet unter Augsburg.de/talkingtree