Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (32)
DEin Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale.
ie Architekten waren die Meister des großen Werkes. Der Architekt, der Dichter, der Meister, vereinte in seiner Person die Bildhauerei, die ihm seine Facaden meißelte, die Malerei, die ihm seine Gläser färbte, die Musik, die seine Glocken läutete und seinen Orgeln den Wind einhauchte. Selbst die arme, eigentlich sogenannte Poesie, die beharrlich in den Manuscripten vegetirte, mußte sich, um doch etwas zu bedeuten, unter die Architektur in poetischer oder prosaischer Form einreihen und ihre Denksprüche in Stein aushauen lassen. Die nämliche Rolle hatten des Aeschylus Tragödien in den priesterlichen Festen Griechenlands, die Genesis in Salomo’s Tempel gespielt.
Bis auf Gutenberg also war die Architektur die Hauptschrift, die allgemeine Schrift. Dieses steinerne Buch beginnt im fernen Morgenlande, zieht sich durch die griechische Welt hin, und das Mittelalter hat sein letztes Blatt geschrieben.
Dieses Phänomen einer volksthümlichen Baukunst, welche auf die Architektur einer Kaste folgt, wie wir im Mittelalter sehen, ist übrigens nicht neu, und zeigt sich in den anderen großen Epochen der Geschichte mit einer den menschlichen Einsichten entsprechenden Bewegung. So in dem Orient, dieser Wiege der Urzeit, nach der hinduischen Architektur die phönizische Baukunst, diese reiche Mutter der arabischen Architektur; im Alterthum nach der ägyptischen Baukunst die griechische Architektur; in den neueren Zeiten nach der römischen Architektur die gothische Baukunst. In den drei älteren Schwestern, der hinduischen, ägyptischen und römischen Architektur, findet man das nämliche Symbol wieder: die Theokratie, die Einheit, die Kaste, das Dogma, die Mythe, Gott; in den drei jüngeren Schwestern, der phönizischen, griechischen und gothischen Baukunst: die Freiheit, das Volk, den Menschen.
Mag er sich Bramine, Magus oder Pabst nennen, so fühlt man in den hinduischen, ägyptischen und römischen Gebäuden immer den Priester, nichts als den Priester. Anders die volksthümlichen Architekturen: sie sind reicher und weniger heilig. In der phönizischen Baukunst fühlt man den Kaufmann, in der griechischen den Republikaner, in der gothischen den Bürger.
Die allgemeinen Kennzeichen jeder theokratischen Architektur sind der Stillstand, der Abscheu vor jedem Fortschritt, die Erhaltung der Traditionen, das fortwährende Biegen aller Form des Menschen und der Natur nach den unverständlichen Launen des Symbols. Es sind räthselhafte Bücher, welche bloß die Eingeweihten zu entziffern vermögen. Jede Form, selbst jede Unförmlichkeit, hat einen Sinn, der sie heilig und unverletzlich macht. Der Stillstand ist ihr Leben, jede Vervollkommnung eine Gottlosigkeit. Die theokratischen Gebäude sind von der Unbiegsamkeit des Dogma, wie von einer zweiten Versteinerung, überzogen.
Die allgemeinen Kennzeichen der volksthümlichen Architektur dagegen sind Mannigfaltigkeit, Fortschritt, Originalität, Reichthum, unaufhörliche Bewegung. Sie haben sich schon so weit von der Religion losgemacht, um auf ihre Schönheit bedacht zu sein, um ohne Unterlaß ihr Gewand von Statuen und Arabesken zu Pflegen und zu verbessern. Sie gehören dem Jahrhundert an, sie haben etwas Menschliches, das sie dem göttlichen Symbol beifügen, unter dessen Einfassung sie noch erscheinen. Daher jeder Seele, jeder Einsicht, jeder Einbildungskraft zugängliche Gebäude, noch symbolisch zwar, aber leicht faßlich wie die Natur.
Zwischen der theokratischen und volksthümlichen Architektur ist ein Unterschied, wie zwischen einer heiligen und einer gewöhnlichen Sprache, wie zwischen einer Hieroglyphe und der Kunst, wie zwischen Salomo und Phidias.
Aus allem Diesem ergibt sich, daß bis zum fünfzehnten Jahrhundert die Architektur das Hauptbuch der Menschheit war, daß in diesem Zeitraum kein irgend etwas verwickelter Gedanke erschien, der sich nicht zum Gebäude erhob, daß jede volksthümliche Idee, wie jedes religiöse Gesetz, ihre Monumente hatte; daß endlich das menschliche Geschlecht nichts Wichtiges dachte, was es nicht in Stein geschrieben hätte. Und warum? – Weil jeder Gedanke, sei er religiös oder philosophisch, sich verewigen will, weil die Idee, welche eine Generation in Bewegung gesetzt hat, noch auf ferne Geschlechter wirken und ihre Spur in der Geschichte zurücklassen will. Welche gebrechliche Unsterblichkeit ist aber ein Blatt Papier, ein Manuscript! Ein weit festeres und dauerhafteres Buch ist ein Gebäude. Das geschriebene Wort zu vernichten, bedarf es bloß einer Fackel und eines fanatischen Muselmanns. Um das in Stein gebaute Wort niederzureißen, bedarf es einer Umwälzung des Staats oder der Natur. Die Barbaren sind über das Colyseum weggeschritten, die Sündfluth hat vielleicht die Pyramiden überspült.
Im fünfzehnten Jahrhundert ändert sich Alles. Der menschliche Geist entdeckt ein Mittel, sich nicht nur dauerhafter, als die Architektur, sondern auch einfacher und leichter zu verewigen. Die Architektur wird von ihrem Throne geworfen. Auf Orpheus steinerne Buchstaben folgen Gutenbergs bleierne.
Der Buchstabe tödtet den Stein! Die Erfindung der Buchdruckerkunst ist das größte Ereigniß in der Geschichte. Sie ist die Mutter der Revolution. Sie ist ein neuer Mund der Menschheit, ein neues Kleid des menschlichen Gedankens, das letzte Hautabstreifen jener symbolischen Schlange, welche seit Adam die Einsicht repräsentirt.
Unter der gedruckten Form ist der menschliche Gedanke unvergänglicher als je; er hat Flügel, keine Macht vermag ihn zu greifen und zu vernichten. Er fliegt mit der Luft des Himmels dahin. Zur Zeit der Architektur machte er sich zum Berge und setzte sich mächtig fest an Einem Orte und in Einem Jahrhundert. Jetzt ist er ein Vogel mit tausendfältigem Gefieder, nach allen Winden fliegend, alle Theile der Luft und des Raums zumal einnehmend.
Der menschliche Gedanke stand fest auf festem Grunde und in dauerhaften Massen, die Buchdruckerkunst aber hat ihn erst unsterblich gemacht. Ein Gebäude, wie fest es sei, kann man niederreißen, wie will man aber die Ubiquität vernichten? Ein Berg ist längst verschwunden unter den Wellen einer Sündfluth, aber die Vögel fliegen noch, und wenn sie auf der Oberfläche der allgemeinen Wasserfluth nur eine einzige Arche erblicken, so lassen sie sich darauf nieder, überleben mit ihr, wohnen dem Falle der Wasser bei, und das neue Geschlecht, das aus diesem Chaos ersteht, erhält, lebend und geflügelt, den Gedanken der untergegangenen Welt.