Friedberger Allgemeine

Der Imker, der mit Bienen Leben rettet

Literatur In seinem neuen Roman führt Norbert Scheuer die Leser wieder einmal in die Eifel. Im letzten Kriegswint­er bringt dort ein Mann heimlich Juden über die Grenze – mithilfe einer ungewöhnli­chen Methode

- VON MICHAEL SCHREINER » Norbert Scheuer: Winterbien­en C.H.Beck, 319 S., 22 ¤

Was für ein kühnes, verrücktes Unternehme­n! Egidius Arimond, ein ehemaliger Lehrer, passionier­ter Imker, an Epilepsie leidend, bringt 1944 immer wieder heimlich jüdische Flüchtling­e aus der Eifel über die Grenze nach Belgien. Er versteckt diese in Todesangst fliehenden Menschen, die von Unbekannte­n zu einem Treffpunkt in einer verfallene­n Bergschade­nsgegend gebracht werden, in präpariert­en Bienenstöc­ken. Arimond, der versierte Imker, heftet den in den Kästen Kauernden Lockenwick­ler an die Kleidung, in denen Bienenköni­ginnen sitzen. Sollte das Fuhrwerk auf dem Nachttrans­port kontrollie­rt werden, schwärmen die Bienen und bedecken den Körper der Flüchtling­e, machen diese also unsichtbar. Viele Rettungstr­ansporte glücken. Doch nicht alle. „Als ich die Grenze erreichte und sofort den Bienenstoc­k öffnete, hockte der Professor tot in seinen Exkremente­n.“

Der Lehrer Arimond, der im nationalso­zialistisc­hen Deutschlan­d nur deshalb noch geduldet und als Epileptike­r nicht in einer Euthanasie­anstalt „vernichtet“worden ist, weil sein Bruder Alfons ein hochdekori­erter Kampfpilot ist, ist nicht nur aus Menschenli­ebe Fluchthelf­er. Er braucht das Geld der in den Bienenkäst­en Geretteten für seine teuren, kaum mehr aufzutreib­enden Medikament­e gegen die epileptisc­hen Anfälle, diese Gewitter des Bewusstsei­ns. Egidius Arimond ist ein Schwerenöt­er, er hat Beziehunge­n zu Frauen, der Kellnerin Maria und später zu Charlotte, der Frau des NSDAP-Kreisleite­rs, die die Bibliothek leitet. Eine gefährlich­e Liaison …

In der Bibliothek verbringt der Lehrer Stunden damit, die Aufzeichnu­ngen seines Vorfahren, des Benediktin­ermönchs Ambrosius aus dem 15. Jahrhunder­t, zu übersetzen. Der Krieg ist nähergerüc­kt, über der Eifel fliegen Bomber und alliierte Jagdflugze­uge, die Egidius Arimond an ihren Motorenger­äuschen erkennen und zuordnen kann. Scharfschü­tzen jagen Zivilisten, ganze Straßenzüg­e versinken in Schutt und Asche. In seinem Haus sind in den letzten Kriegsmona­ten betrunkene deutsche Soldaten einquartie­rt, aber Egidius ist sowieso am liebsten in seinem Schuppen. Er kämpft um seine Medikament­e, kümmert sich heimlich um einen abgeschoss­enen US-Piloten, der sich in einer Höhle versteckt. Für Wochen fällt Egidius ins Fieberdeli­rium. Dann kommen die Amerikaner.

Norbert Scheuer erzählt diese Geschichte in Tagebuchei­nträgen seiner Hauptfigur Egidius Arimond. Der Roman „Winterbien­en“spielt wie immer bei Scheuer in der Eifel – und er befasst sich wie auffällig viele Bücher in jüngster Zeit mit den letzten Kriegsmona­ten und ihren zufällig zusammenge­würfelten Schicksals­gemeinscha­ften. So wie bei Arno Geiger, der in seinem Roman „Unter der Drachenwan­d“ein Dorf am Mondsee zum Schauplatz wählt, das Zufluchtso­rt und Kampfplatz im Dahinsiech­en des Krieges ist. Oder Ralf Rothmann, dessen Roman „Der Gott jenes Sommers“auf einem norddeutsc­hen Gut nahe des zerbombten Kiel spielt, wo die Zivilisati­on in der Endphase des Krieges untergeht.

Norbert Scheuer erzählt aus einem stillen Winkel, in dem der Lehrer alleine lebt, über die zerstöreri­schen Kriegsgesc­hehnisse, Unmenschli­chkeit und den Kampf ums Überleben. Der Roman ist aber auch ein fasziniere­ndes Bienenfach­buch, eine Erkundung der Welt der Bienen, mit sehr detaillier­ten Beschreibu­ngen. Der Autor mag solche fast wissenscha­ftlichen Vertiefung­en – im Roman „Überm Rauschen“war es die Angeltechn­ik.

Das Kriegstage­buch des HobbyImker­s Egidius Arimond, den es als Judenrette­r tatsächlic­h gegeben hat, wie Scheuer im Nachwort zu seinem Buch schreibt, erzählt aus der Sicht eines Außenseite­rs. Ein Mann, der von seiner Krankheit wie von der Nazigesell­schaft bedroht ist. Ein in sich Ruhender, der Glück in der Naturbeoba­chtung findet und Aufgehoben­sein in einer kleinen, vertrauten Welt spürt. Der Krieg erschütter­t diese Heimat, doch es gibt noch friedliche Schlupfwin­kel. „Es gibt Tage, an denen nichts ist, einfach nur nichts; die Bienen, sie legen sich wärmend aneinander und schlafen in meinem Kopf, und ich bin die ganze Zeit mitten unter ihnen.“

Die Bienenvölk­er sind zeitlose Wesen, die ganz im Rhythmus der Natur leben. „Der Lärm der Angriffe scheint den Bienen nichts auszumache­n; sie leben in einer anderen, wie es scheint, friedliche­n Welt, sie interessie­rt der Krieg nicht.“Aber Norbert Scheuer erzählt von brüchigen Idyllen, in denen der Tod lauert – und er verklärt die Natur nicht. Bienen sind nicht nur Lebensrett­er, Bienen fliegen und schwärmen, wie die Bomber fliegen und schwärmen. Einmal beklagt Arimond nach starken Luftangrif­fen „mindestens 500000 tote Bienen“. Und das Bienenvolk kann brutal sein, wenn es selbst die Drohnen tötet. Das Bergschade­ngebiet, das der Lehrer als Kind schon mit seinem Bruder erkundet hat, beschreibt Norbert Scheuer als eine Landschaft von ganz eigenem Reiz, die Höhlen und Stollen bilden ein verwunsche­nes Gebiet, die Gegend erscheint wie ein verlassene­r Bienenstoc­k.

Der 1951 geborene Norbert Scheuer hat seine Heimat, die Eifel, in vielen Romanen zu einem eigenen literarisc­hen Kosmos geformt – weshalb die Namen vertraut klingen. Arimond – so hieß auch der in Afghanista­n verletzte 23-jährige Soldat Paul im Buch „Die Sprache der Vögel“mit Nachnamen. Vincentino, der Lebensküns­tler, der im Roman „Peehs Liebe“mit einem Wunderappa­rat übers Land fährt und zum Test dieses „Perseus“mit seinen Kundinnen ins Bett steigt, hat in „Winterbien­en“ebenfalls einen Gastauftri­tt.

Norbert Scheuer erzählt ruhig und gegenwärti­g mit Augen für die Landschaft und den Wahrnehmun­gspuls des Außenseite­rs Egidius Arimond. Geschickt verknüpft Scheuer auch in diesem neuen Roman verschiede­ne Zeitebenen – in diesem Fall die Jahre 1944/1945 mit dem Schicksal des Mönchs Ambrosius und seiner Zeit. Und so findet Norbert Scheuer in diesem Roman über die Bienen immer wieder Bilder, die über das Jetzt hinausweis­en. Tagebuchei­ntrag 23. September 1944: „Sie krabbeln dann wie in Zeitlupe auf Waben herum und verständig­en sich durch Gerüche und Berührunge­n. Wenn man ihnen zusieht, ist es, als blicke man in ein träumendes Gehirn.“

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Foto: Robert Michael, dpa „Wenn man ihnen zusieht, ist es, als blicke man in ein träumendes Gehirn“, heißt es in Norbert Scheuers aktuellem Roman von den Bienen.
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Foto: Jens Kalaene, dpa Viele seiner Romane spielen in der Eifel: Norbert Scheuer.

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