„Wir Menschen konstruieren uns selber“
Neurowissenschaften entschlüsseln die Entstehung des „Selbst“. Das hat große Einflüsse auf das Leben jedes Einzelnen, aber manchmal auch auf die ganze Welt
Bauer, Sie sind Arzt und Neurowissenschaftler. In Ihrem neuen Buch „Wie wir werden, wer wir sind“klopfen Sie neueste Erkenntnisse der Hirnforschung ab. Was ist die Kernthese?
Professor Joachim Bauer: Jeder Mensch trägt einen inneren Kern in sich, mit dem er glücklich und in Frieden leben können sollte. Die Hirnforschung bezeichnet diesen Kern als „Selbst“. Seine neurobiologischen Grundlagen wurden erst vor wenigen Jahren entdeckt: Es sind die sogenannten „Selbst-Netzwerke“unseres Gehirns. Sie sind bei der Geburt noch nicht vorhanden. Menschliche Neugeborene sind fühlende Wesen, ein „Selbst“haben sie aber noch nicht. Mein Buch erzählt, wie sich dieses Selbst entwickelt.
Sie sagen, dass die Art, wie Menschen mit ihrem Selbst aufgestellt sind, von gesellschaftlicher Relevanz ist – bis hin zur Erklärung politischer Phänomene. Bauer: Ja. Lebenswichtige Bedürfnisse, die Menschen haben, sind nicht nur materieller Art. Ebenso wichtig wie gutes Auskommen, Arbeit und eine Wohnung sind unsere Selbst-Bedürfnisse: Das Gefühl, dass wir „gut genug“sind, dass wir etwas bewirken können, dass wir respektiert werden und eine Würde haben. Wer dieses Gefühl nicht hat, und das sind leider nicht wenige Menschen, der lebt im andauernden inneren Unfrieden. Dieser macht sich auch auf der gesellschaftlichen und politischen Ebene bemerkbar.
Inwiefern?
Bauer: Wenn ein Teil der Bevölkerung das Gefühl hat: Wir sind „Selbst-Zwerge“, wir werden nicht wahrgenommen, können uns bestimmte Dinge nicht leisten, dann entsteht eine Mischung aus Frust, Depression und Wut. Das wiederum ist ein idealer Nährboden für narzisstische Führerfiguren, die die Wut bündeln und den Frustrierten die Erfüllung ihrer Sehnsüchte nach Anerkennung versprechen.
Boris Johnson ist neuer britischer Premier. Was macht einen wie ihn so attraktiv für die Wähler?
Bauer: Narzissten wie Johnson sind Menschen, die ihr Selbst künstlich aufblasen. Sie erwecken den Eindruck, sie seien etwas Besseres und hätten die Macht, sich über die Regeln des Zusammenlebens hinwegsetzen zu können. Auf der anderen Seite leiden viele an der gefühlten Machtlosigkeit ihres Selbst. Narzisstische Politiker versprechen, sie könnten uns, die wir uns mit dem Alltag herumplagen, wieder „great“, also groß machen und uns von allen Mühen erlösen.
Warum zeigen sich große Teile der Bevölkerung unterschiedlicher Länder so anfällig für Populismus und Abgrenzung nach außen?
Bauer: Viele Menschen spüren die Unsicherheiten, die die Globalisierung mit sich gebracht hat, den enormen Wandel in der Arbeitswelt oder die Angst um bezahlbaren Wohnraum. Je machtloser und benachteiligter sich Menschen fühlen, desto anfälliger sind sie für narzisstische Führungsfiguren.
Welche zwischenmenschlichen Interaktionen passieren in einer Gesellschaft, die sich mehrheitlich für eine populistische Politik entscheidet? Bauer: Menschen können sich mit Stimmungen anstecken. Das kann positiv sein wie im Vorfeld der deutschen Wiedervereinigung in der DDR. Es kann dabei aber auch eine Bewegung entstehen, so eine Art Massenrausch. Die neurobiologische Grundlage sind in unserem Gehirn eingebaute Resonanzsysteme, die es ermöglichen, dass sich Stimmungen von einem Menschen auf den anderen übertragen.
Was muss einem denn im Leben widerProfessor fahren sein, dass man ein Ego entwickelt wie Donald Trump?
Bauer: Narzissten wie er sind Menschen, denen als Kind zwei Botschaften mitgegeben wurden. Die erste Botschaft lautet: So wie du bist, bist du nicht gut genug. Ein normales Kind zu sein, das gerne spielt, das reicht nicht. Die zweite Botschaft lautet: Du bist ein Geschenk an die Menschheit. Kinder und Jugendliche, die mit diesem Auftrag ins Leben geschickt wurden, beginnen schon früh, sich so zu verhalten, als seien sie etwas Besseres. Sie verlangen ständige Bewunderung, halten sich nicht an Regeln und schließen keine Kompromisse, wie normale Menschen das tun. Wenn sie auf Widerstand stoßen, drohen sie oder üben Gewalt aus.
Die stärkste Droge für einen Menschen ist der andere Mensch. Was meinen Sie damit genau?
Bauer: Mehr als alles andere entscheiden unsere Beziehungen zu den uns umgebenden Menschen, ob wir mit unserem inneren Selbst im Frieden sind. Ob wir uns glücklich fühlen, entscheidet sich daran, ob wir ein Selbst in uns spüren, das sich seiner Wertigkeit gewiss ist. Zu solch einem guten starken Selbst können wir nur durch andere Menschen kommen. Vielen Menschen wurde als Kind ein Selbst antrainiert, das ständig an sich zweifelt, sich klein, machtlos und unbedeutend fühlt. Menschen versuchen dann auf verschiedene Weise, diese frühe Wunde zu heilen: Entweder machen sie sich klein und gehen allen Konflikten aus dem Wege. Oder sie machen sich künstlich groß, zum Beispiel durch die Ansammlung von Besitz oder durch Wichtigtuerei.
Wie kommt das Selbst ins Kind? Bauer: Es entsteht vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die Säuglinge in den ersten Lebensmonaten mit ihren Eltern oder Kita-Betreuern machen. Die Art des Umgangs lässt das Kind spüren, wer es ist. Katzen, Hunde oder Pferde verdanken ihren „Ich-Sinn“ihren schon früh vorhandenen Kompetenzen – vor allem ihrer gut entwickelten Wahrnehmung und Motorik. Menschliche Säuglinge kommen weit unreifer auf die Welt und erwerben ihren „IchSinn“und ihr „Selbst“durch die Art, wie sie in den ersten etwa 18 Monaten durch ihre Bezugspersonen gespiegelt werden.
Entwickelt jedes Kind ein in etwa gleiches Selbst?
Bauer: Nein. Säuglinge spüren, ob ihre Lebensäußerungen und Bedürfnisse bei ihren Bezugspersonen auf positive Resonanz stoßen oder nicht. Unser Ich, so schreiben Sie, ist ein Produkt von Resonanzen – unserer Erfahrungen, Freuden und Ängste. Wie lange lässt es sich beeinflussen? Ist man ab einem gewissen Alter sozusagen immun gegen äußere Einflüsse? Bauer: Alle Erfahrungen, die wir mit Mitmenschen machen, lösen eine Resonanz aus und werden zu einem Teil unseres Selbst. Diese Beeinflussungsprozesse sind in den frühen Kinderjahren am größten, setzen sich aber lebenslang fort.
Der Schlüssel zu uns liegt für Sie also in der Entstehung unseres Selbst in unserem Gehirn?
Bauer: Ja. Die Neurowissenschaften bestätigen inzwischen, was der italienische Renaissance-Philosoph Pico della Mirandola schon vor über 500 Jahren – verkürzt gesagt – festgestellt hat: Der Mensch ist für ihn „ein Wesen von unbestimmter Gestalt“. Wir sind die einzige Spezies, die sich zu einem guten Teil selbst konstruiert – durch Erziehung, durch Kultur und durch die Art, wie wir unser Zusammenleben regeln.
Interview: Josef Karg
Prof. Joachim Bauer, 67, ist Arzt und Neurowissenschaftler. Er hat zahl-reiche Bücher zum Thema veröffentlicht.