Klimawandel trifft den Nahen Osten mit voller Wucht
Hintergrund Die Erderwärmung könnte die Krisenregion noch weiter destabilisieren
Istanbul Die uralte Stadt Alexandria in Ägypten versinkt im Meer, anderswo wird das Wasser knapp, Felder verdorren, Sandstürme ziehen über das Land, und es wird mit jedem Sommer heißer: Die Menschen im Nahen Osten leiden stärker unter dem Klimawandel als die Bewohner anderer Weltgegenden. Teile des Nahen Ostens werden nach Experteneinschätzung in den kommenden Jahrzehnten unbewohnbar werden – das könnte neue Massenfluchten in andere Erdteile auslösen. Ansätze zum Gegensteuern gibt es zwar, doch es reicht noch nicht, um den Trend zu stoppen.
Schon jetzt gibt es Hitzerekorde, die europäische Spitzenwerte geradezu kühl erscheinen lassen. In diesem Jahr wurden in Saudi-Arabien 55 Grad gemessen, in Kuwait waren es 52 Grad. Laut einer Studie der Max-Planck-Gesellschaft hat sich die Zahl der sehr heißen Tage im Nahen Osten und in Nordafrika seit 1970 verdoppelt. Gegen Mitte des Jahrhunderts werden die SommerTemperaturen auch nachts nicht mehr unter 30 Grad sinken, sagen die Forscher voraus. Auch steigende Meeresspiegel bedrohen den Nahen Osten. Der Weltklimarat erwartet, dass der Spiegel des Mittelmeeres um bis zu einen Meter steigen könnte. Nach Angaben der Weltbank werden mehr als 40 Hafenstädte in der Nahost-Region, darunter einige Wirtschaftsmetropolen, davon betroffen sein. Länder wie Tunesien, Libyen, Ägypten sowie die Golfstaaten sind besonders gefährdet.
Im ägyptischen Alexandria ist die Entwicklung bereits in vollem Gang. Das Wasser eines Kanals in der Stadt ist so hoch gestiegen, dass die Behörden die Evakuierung eines Viertels angeordnet haben. Strände, an denen vor zwanzig Jahren noch Kinder tollten, sind verschwunden. Die voranschreitende Versalzung des Grundwassers könnte Ackerflächen im Nildelta und Trinkwasserreservoirs gefährden. Das Tote Meer zwischen Israel, Jordanien und dem Westjordanland hat das gegenteilige Problem: Die Hitze lässt den Wasserspiegel des abflusslosen Sees um rund einen Meter pro Jahr sinken. Mitte des Jahrhunderts könnte das Tote Meer auf die Größe eines Schwimmbeckens zusammengeschrumpft sein, meldete die britische Zeitung Daily Express unter Berufung auf Experten.
In vielen Gegenden des Nahen Ostens beschleunigt der Wassermangel die Ausbreitung von Wüsten und den Verlust landwirtschaftlicher Flächen. Nach Angaben des Instituts für globale Ressourcen in den USA liegen zwölf der 17 Länder mit den weltweit größten Wasserproblemen im Nahen Osten. Trotzdem wird vielerorts sehr verschwenderisch mit dem Wasser umgegangen: In Saudi-Arabien etwa liegt der durchschnittliche Wasserverbrauch pro Kopf und Tag beim Doppelten dessen, was in Europa verbraucht wird.
Als sich Anfang des Jahres die Himmelsschleusen öffneten und der Region den lange erwarteten Regen brachten, waren die Niederschläge so stark, dass Flüsse über die Ufer traten und Ernten vernichtet wurden. Im Mai füllten 47 Milliarden Kubikmeter Wasser die Reservoire des Landes – dreimal so viel wie im vergangenen Jahr.
Der Klimawandel verstärkt den Reformdruck in einer Region, die ohnehin mit einer stark wachsenden Bevölkerung, einem Bankrott politischer Systeme und vielen Kriegen konfrontiert ist. Im Irak zählen Experten die Klimaveränderung neben dem Terrorismus und der Korruption zu den drängendsten Problemen des Landes. Bei Temperaturen von fast 50 Grad im Schatten und häufigen Stromausfällen können sich nur die Wohlhabenden eine Klimaanlage und einen Generator leisten. In einem UN-Bericht im Juni war von einer drohenden „Klima-Apartheid“die Rede, bei der sich die Reichen vor Hitze, Hunger und Konflikten schützen können und der Rest der Welt leidet.
In einigen Gegenden des Nahen Ostens hat die Abwehrschlacht gegen den Klimawandel begonnen. Der Ausbau erneuerbarer Energien gehört zum Zukunftsprogramm „Vision 2030“des saudischen Thronfolgers Mohammed bin Salman. Das Sultanat Oman gehört zu den regionalen Vorreitern bei der Wasserwiederaufbereitung.
Auch die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) wollen ihre Energieversorgung bis 2050 zur Hälfte aus sauberen Quellen wie Sonnenkollektoren bestreiten. In Abu Dhabi ging im Juni die weltgrößte Solaranlage zur Stromerzeugung ans Netz. „Noor Abu Dhabi“besteht aus 3,2 Millionen Solarzellen auf acht Quadratkilometern, die Energie für 90 000 Menschen liefern sollen. Auf diese Weise soll der CO2-Ausstoß in Abu Dhabi um eine Million Tonnen sinken – das sei so, als würden 200 000 Autos aus dem Verkehr gezogen, erklärte die Regierung.
Eine Solaranlage allein wird die Region nicht vor den Folgen des Klimawandels retten können. Radikales Umdenken ist gefragt: Bei der Klimakonferenz in Abu Dhabi forderte UN-Generalsekretär Guterres ein Ende aller Subventionen für fossile Energiequellen. Das wird so mancher Regierung in der ölreichen Region dann doch zu weit gehen.
Temperaturen jenseits der 50-Grad-Marke