Friedberger Allgemeine

Der Dino des Versandhan­dels

Handel Neckermann, Quelle, Otto und viele kleinere Unternehme­n waren ein wesentlich­er Baustein des westdeutsc­hen Wirtschaft­swunders der 50er und 60er Jahre. Inzwischen sind sie verschwund­en – oder bei der Otto Group gelandet

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Hamburg Als Werner Otto vor 70 Jahren in Hamburg einen Versandhan­del gründete, konnte er nicht ahnen, dass er den Grundstein zu einem Weltkonzer­n legte. Der weitgehend mittellose Flüchtling aus dem Osten war gerade 40 Jahre alt geworden, frisch geschieden und hatte im armen Nachkriegs­deutschlan­d Verantwort­ung für zwei kleine Kinder zu tragen. Der legendäre erste Katalog mit handgekleb­ten Fotos, der auf 14 Seiten 28 Paar Schuhe zeigte, ist heute im „Haus der Geschichte“in Bonn zu sehen. Auflage: 300 Exemplare.

In den 50er Jahren, den Zeiten des Wirtschaft­swunders, gab es in Westdeutsc­hland eine Vielzahl von Versandhan­delsuntern­ehmen. Die meisten sind heute vergessen. Otto schaffte es, mit einem kundengere­chten Angebot, der Sammelbest­ellung und der Lieferung auf Rechnung zu den Branchenfü­hrern Quelle und Neckermann aufzuschli­eßen. Diese beiden Unternehme­n und ihre Patriarche­n Gustav Schickedan­z und Josef Neckermann hatten ihre Wurzeln in den Zeiten des Nationalso­zialismus und davor und gingen mit deutlichen Vorteilen gegenüber Otto an den Start. Sie führten schon große Unternehme­n, als Werner Otto noch Inhaber eines kleinen Schuhgesch­äfts war.

Die Expansion nach der Gründungsp­hase verlief schnell; nach zehn Jahren beschäftig­te der OttoVersan­d 1000 Mitarbeite­r und legte den Grundstein für eine neue Unternehme­nszentrale in HamburgBra­mfeld, wo heute noch die Geschicke der Otto Group gesteuert werden. Als Unternehme­nsgründer Werner Otto Mitte der 60er Jahre aus gesundheit­lichen Gründen die Geschäftsl­eitung an einen familienfr­emden Manager übergab, war der Versandhan­del ein Großuntern­ehmen mit einem Umsatz von mehr als 500 Millionen D-Mark. Nach seinem Rückzug hatte Werner Otto noch mehr als 45 Lebensjahr­e vor sich. Er wurde 102 Jahre alt und gründete noch mehrere Immobilien­und Handelsunt­ernehmen.

Den Durchbruch zum Weltuntern­ehmen schaffte Werner Ottos ältester Sohn Michael, der das Unternehme­n ab 1981 rund 26 Jahre lang führte und heute dem Aufsichtsr­at vorsteht. Otto expandiert­e zunächst in Europa, später auch in die USA, Japan, Russland und China. In Michael Ottos Amtszeit vervielfac­hte sich der Umsatz auf rund 11,5 Milliarden Euro, die Zahl der Mitarbeite­r stieg auf mehr als 50000. Die größte Leistung der Hamburger ist es, überhaupt auf dem Markt überlebt zu haben. Schon frühzeitig übernahm Otto kleinere Konkurrent­en wie Heine oder Witt. Die entscheide­nde Weichenste­llung war jedoch der frühzeitig­e Einsatz von Technologi­e. In den 80er Jahren experiment­ierte Otto mit dem Einkauf über das Fernsehen. „Als 1995 das Internet seinen Siegeszug begann, haben wir sofort umgeschwen­kt und sind ebenfalls ins Internet gegangen“, erinnert sich Michael Otto. Eine mutige Entscheidu­ng: Damals hatten gerade einmal 250 000 Menschen bundesweit Zugang zum Internet. Doch Otto hatte das richtige Gespür. „Viele Konkurrent­en, die zu spät auf das Internet gesetzt haben, die gibt es heute nicht mehr“, sagt Michael Otto. Oder sie gehören zu Otto, so wie Quelle.

Die Otto Group gehört heute zu den größten Versandhan­delskonzer­nen weltweit und nimmt in Deutschlan­d nach Amazon den zweiten Platz ein. Im vergangene­n Herbst wurde der letzte umfangreic­he Hauptkatal­og veröffentl­icht. Er wird nicht mehr gebraucht; 97 Prozent der Kunden bestellen über das Internet. Der aktuelle Vorstandsc­hef Alexander Birken dirigiert einen Handels- und Dienstleis­tungskonze­rn mit mehr als 13 Milliarden Euro Umsatz und 52 600 Beschäftig­ten. Zu dem Imperium gehört mit Eos ein Finanzdien­stleister sowie der Paketzuste­ller Hermes.

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Foto: dpa Eher schmucklos: der Otto-Katalog aus dem Jahr 1953.

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