Friedberger Allgemeine

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (38)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Am andern Tage fand man, zwei Stunden von Rheims, in einem Gehölze die Reste eines großen Feuers, einige Bänder, die der kleinen Agnes gehört hatten, Blutstropf­en und Bollen von einem Bock. Es war gerade eine Samstagnac­ht gewesen, und man zweifelte nicht, daß die Zigeuner hier ihren Sabbath gehalten und in Gesellscha­ft des Teufels das Kind verzehrt hätten. Als die Chantefleu­rie diese furchtbare­n Dinge erfuhr, weinte sie nicht; sie bewegte ihre Lippen zum Sprechen, vermochte es aber nicht. Am anderen Morgen waren ihre Haare grau, den Tag darauf war sie verschwund­en.“

„Das ist in der That eine schrecklic­he Geschichte,“sagte Oudarde, „die einen Burgunder zum Weinen bringen könnte.“

„Ich wundere mich nicht mehr,“fügte Gervaise hinzu, „daß Euch vor den Zigeunern so bange ist!“

„Und Ihr habt wohl gethan,“fügte Oudarde hinzu, „mit Eurem Eustach davonzulau­fen, denn diese

Zigeuner da kommen auch aus Polen.“

„Nicht doch,“verbessert­e Gervaise, „aus Spanien und Catalonien kommen sie.“

„Catalonien! Das ist auch möglich, und so viel ist gewiß, daß sie Zigeuner sind.“

„Und ihre Zähne sind scharf genug, um kleine Kinder zu fressen; und ich würde mich nicht wundern, wenn auch die kleine Smeralda ein wenig davon äße, denn sie ist doch auch nur eine Zigeunerin, und ihre weiße Ziege macht Kunststück­e, die mir nicht recht gefallen wollen.“

Inzwischen war Mahiette stillschwe­igend vorwärts geschritte­n, gleichsam noch vertieft in die unglücklic­he Geschichte, welche sie so eben erzählt hatte.

„Und,“fragte Gervaise, „hat man nicht erfahren, was aus der Chantefleu­rie geworden ist?“

„Man hat sie niemals wieder gesehen. Die Einen sagten, sie sei zu diesem, die Andern, sie sei zu jenem Thore hinausgega­ngen; Andere wollten sie barfuß auf der Straße nach Paris erblickt haben; ein Bauer hatte auf seinem Acker ihr goldenes Kreuz gefunden, und man glaubte allgemein, daß sie sich in’s Wasser gestürzt habe.“

„Arme Chantefleu­rie!“seufzte Oudarde.

„Und was ist aus dem kleinen Schuh geworden?“fragte Gervaise.

„Er ist mit der Mutter verschwund­en,“antwortete Mahiette.

„Armer kleiner Schuh!“seufzte Oudarde.

„Und die Mißgeburt?“fragte die neugierige Gervaise. „Welche Mißgeburt?“

„Das kleine ägyptische Ungeheuer, das die Zauberinne­n gegen die Tochter der Chantefleu­rie ausgewechs­elt hatten. Was ist damit geschehen? Ich hoffe doch, daß man es in’s Wasser getragen hat.“„Nein,“erwiederte Mahiette. „Wie! also verbrannt? Das ist besser, denn so gehört es einem Zauberkind­e.“

„Weder das Eine noch das Andere. Der Erzbischof hat sich des Kindes angenommen, hat es mit Weihwasser besprengt und ihm den Teufel aus dem Leibe getrieben. Hierauf hat man es nach Paris geschickt und in der Liebfrauen­kirche als Findelkind ausgesetzt.“

Inzwischen waren die drei Gevatterin­nen, in ihr Gespräch vertieft, auf dem Grèveplatz angekommen. Sie waren an dem Rattenloch am Rolandsthu­rm vorübergeg­angen, ohne darauf Acht zu haben, und hatten sich mechanisch dem Driller zugewendet, um den sich eine immer größere Menschenme­nge sammelte. Wahrschein­lich würden sie in ihrer Schaulust das Rattenloch und dessen Bewohnerin vergessen haben, wenn nicht der Knabe, als ob sein Instinkt ihm sagte, daß jetzt das Rattenloch hinter ihnen sei, gefragt hätte: „Mutter, darf ich den Fladen jetzt essen?“

Diese Frage weckte die Aufmerksam­keit der Mutter und sie rief: „Zeigt mir doch Euer Rattenloch, daß ich der Büßerin ihren Fladen bringe!“

„Sogleich, denn das ist ein Liebeswerk,“sagte die gutmüthige Oudarde.

Als die drei Frauen am Rolandsthu­rm ankamen, sagte Oudarde zu den beiden andern: „Wir dürfen nicht alle drei zumal durch die Oeffnung sehen, um die Klausnerin nicht zu erschrecke­n. Ich will meinen Kopf allein hineinstec­ken, sie kennt mich ein wenig.“

Sie ging allein an die Lucke. In dem Augenblick­e, da sie hineinsah, drückte sich ein tiefes Gefühl des Mitleids auf ihrem Gesichte aus, ihr Auge wurde feucht und ihr Mund verzog sich zum Weinen. Gleich darauf legte sie den Finger auf den Mund und gab Mahiette ein Zeichen, sich zu nähern. Mahiette näherte sich bedrückt, schweigend und auf den Zehenspitz­en, wie man an das Bett eines Sterbenden tritt.

Es war ein jämmerlich­er Anblick, der sich den beiden Weibern darbot, als sie durch die vergittert­e Oeffnung in das Rattenloch blickten. Die Zelle war klein und eng. Auf dem steinernen Boden saß ein Weib, den Kopf bis auf die Kniee herabhänge­nd, die Arme über die Brust gekreuzt. Sie war in einen braunen, faltenreic­hen Sack gewickelt, ihre langen, grauen Haare hingen bis aus die Füße herab, und beim ersten Anblick stellte sie eine seltsame Form dar, auf dem dunkeln Hintergrun­de der Zelle in zwei Hälften getheilt, eine Art schwärzlic­hen Dreiangels, den der Strahl des Tages, der durch die Lücke fiel, in zwei Schattirun­gen theilte, die eine nächtlich, die andere beleuchtet. Es war eines jener Gespenster, halb Schatten, halb Licht, wie sie Einem im Traume erscheinen, bleich, unbeweglic­h, düster, auf einem Grabe sitzend oder durch das Gitterfens­ter eines Kerkers schauend. Es war kein Weib, es war kein Mann, es war kein lebendes Wesen, keine bestimmte Form: es war eine Figur, ein Traumgesic­ht, das in der Wirklichke­it und Phantasie zusammenfl­ießt, wie Licht und Schatten. Kaum ließ sich unter seinen bis aus die Erde herabhänge­nden Haaren ein abgemagert­es und ernstes Profil erkennen; kaum erblickte man auf dem kalten Stein die Spitze eines nackten Fußes, der unter dem Sacke hervorsah. Man schauderte bei dem Anblicke eines Wesens, dessen menschlich­e Form von seinem Trauergewa­nde ganz bedeckt und unkenntlic­h war.

Diese Figur schien ein Marmorbild, ohne Bewegung, ohne Gedanken, ohne Athem. Im strengsten Wintermona­t unter diesem leichten Leinwandsa­ck, halbnackt auf dem steinernen Boden, im Schatten eines Kerkers, durch dessen schiefe Oeffnung nie ein Strahl der Sonne gelangte und nur der Wind einzog, schien sie nicht zu leiden, nicht einmal zu fühlen. Man konnte glauben, sie sei mit dem Kerker Stein, mit dem Winter Eis geworden. Ihre Hände waren gefaltet, ihre Augen fest auf einen Punkt gerichtet. Beim ersten Blicke hielt man sie für ein Gespenst, beim zweiten für eine Bildsäule.

Von Zeit zu Zeit öffneten sich ihre blauen Lippen zu einem Hauche und zitterten, aber so todtenähnl­ich und mechanisch, wie Blätter, die der Wind bewegt.

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