Friedberger Allgemeine

Nur Knaben

Urteil Mädchen klagt um Aufnahme in Chor

- VON STEFAN DOSCH

Berlin/Augsburg Heutzutage ist die Weltöffent­lichkeit sensibilis­iert für Traditione­n, die die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte ausgebilde­t hat. Die Unesco hält viele solcher Ausdrucksf­ormen inzwischen für schützensw­ert und versieht sie mit dem Prädikat „immateriel­les Kulturerbe“, wozu nicht zuletzt eine Vielzahl künstleris­cher Traditione­n gehört. Seltsam, dass es noch keine Initiative gibt für jene Kulturform, die seit Jahrhunder­ten insbesonde­re im europäisch­en Raum gepflegt wird: die Tradition der Knabenchör­e. Doch vielleicht wird das nun anders. Denn in Berlin hat ein neunjährig­es Mädchen darauf geklagt, in eben ein solches Ensemble, den seit 1465 bestehende­n und bisher ausschließ­lich mit Knaben besetzten Staats- und Domchor, aufgenomme­n zu werden.

Die Ablehnung des Gesuchs war von dem Mädchen beziehungs­weise dessen Mutter angefochte­n worden mit dem Argument, hier liege ein Verstoß gegen die gleichbere­chtigte Teilhabe an staatliche­r Förderung, mithin also Diskrimini­erung vor. Die Begründung vonseiten des Chors, die Aufnahme des Mädchens sei aus klangspezi­fischen Gründen nicht möglich, ließ die Mutter nicht gelten und zog vor Gericht.

Dass Knabenchör­e tatsächlic­h über ein eigenständ­iges, gerade durch die Besonderhe­it von Jungenstim­men hervorgeru­fenes Klangbild verfügen, ist unter Musikexper­ten wie sämtlichen aufgeschlo­ssenen Hörern unstrittig. Ein monochrome­r, trockener, gehärteter Klang, den seit dem frühen Mittelalte­r Komponiste­n beim Schreiben ihrer Werke im Ohr hatten, und keineswegs nur im kirchliche­n Kontext – Gustav Mahler etwa fordert für zwei seiner Sinfonien ausdrückli­ch Knabenstim­men.

Das Berliner Verwaltung­sgericht hat am Freitag die Klage des Mädchens nach mehrstündi­ger Verhandlun­g abgewiesen. Und zwar eben unter Hinweis auf den besonderen klangliche­n Zuschnitt eines Knabenchor­s, weshalb hier dem Recht auf Kunstfreih­eit der Vorrang zukomme. Der Richter erklärte allerdings auch, dem Fall wohne eine prinzipiel­le Bedeutung inne, und so ließ er Berufung zu.

Ganz scheint das Aufbrechen der Tradition mit juristisch­en Mitteln also noch nicht gebannt. Vielleicht wäre eine Initiative für ein immateriel­les Kulturerbe Knabenchor doch nicht überflüssi­g.

Newspapers in German

Newspapers from Germany