Auf nach Norden!
Auf der Suche nach dem Herz der Region: In vier Etappen wandern wir in diesem Sommer durch das Journal-Land. Folge 3: Von Süd nach Nord – abseits der Allgäu-Tourismus-Verdichtungen
Das golden und schräg einfallende Morgenlicht lässt die Eierbecher und die Semmeln leuchten wie Kostbarkeiten. Aufbruchstimmung in Pfronten-Steinach, es ist 7.25 Uhr und auf 850 Metern Höhe sind längst noch nicht alle Gäste in den Schuhen. Wir schon. Die Rucksäcke sind gepackt, nach dem Frühstück im Gasthof Löwen geht es hinaus und immer nach Norden. In der „Bergmetzgerei“Hipp nebenan kauft eine Rheinländerin mit schönem Singsang ein, vor der Türe stehen die Urlauberautos. IGB, PF, KA, B, DO, ERZ. Wir sind im Touristenallgäu, die Häuser, ob sie nun „Hotel Garni Bergidyll“oder „Aggenstein“heißen, sind gut gebucht. Vorm Gasthof Adler, den es seit 1495 gibt, steht ein Lastwagen – Augustinerbräu München bringt Nachschub. Die Vils glitzert silbern und der Pfrontener Hausberg, der Breitenberg, könnte auch als Tafelberg in Südamerika durchgehen. Ein Tattoo-Laden heißt „Relax + Pain“– Erholung und Schmerz. Das könnte eine gute Zusammenfassung unseres ersten Wandertages werden. Aber noch liegt viel Norden vor uns und noch mehr Grün. Bevor es aus Pfronten raus durchs Berger Moos geht, fällt ein schöner Schriftzug ins Auge: „Spielwaren Reiseandenken“. Das sind Botschaften aus der guten alten Zeit – in der es noch keine Urlauber auf E-Bikes und auch keine Ferien auf dem Bauernhof mit WLAN-Code gab. Dafür gab es damals noch Wasen, Ohrengspaten und Rässen. Kennt heute keiner mehr, oder?
jedenfalls nicht, aber zum Glück klärt ein Schild am Moorpfad uns auf: Zu jedem Hof gehörte einst ein Moos. Und damit im Winter die Stube warm war, musste man im Frühjahr Wasen stechen – Torffladen, die den Restzedll es Jahres trockneten. Naturidylle, über die riesige braune Falter taumeln oder Brennstoffdepot für den nächsten Winter – nichts bleibt, wie es ist.
Bevor es nach Rehbichl hinauf geht, begegnen wir einer Holzstatue. Der „Ehrwürdige Bruder Georg aus Pfronten“. Geboren in Kreuzegg am 25. November 1626. Beruf: Bäcker. Georg ging nach Süden, zu Fuß nach Rom, wo er als Bäcker und Ordensmann segensreich wirkte bis zum letzten Atemzug. Nach Rom – zu Fuß! Die nächsten Stunden wird uns sein Beispiel immer wieder moralisch stützen, wenn es bei 30 Grad mal biestig wird. Denk an den Ehrwürdigen Georg!
In Schweinegg haben wir das Gefühl, die Welt besteht ab nun für immer aus grünen sanften Hügeln, auf denen hier und da Kühe stehen, die träge Radfahrern auf E-Bikes nachsehen. Ansonsten: 1 Kapelle, 1 Traktor, 1 Lieferwagen, der Pakete ausfährt. Tourismus im Allgäu jedenfalls sieht viel luftiger aus als
der in der Altstadt von Dubrovnik. Wir treffen niemanden, seit in Rehbichl vorm Kolping-Ferienheim „Haus Zauberberg“ein paar Familien die Autos vollpackten zur Heimreise. Auf unserer Karte „UK 50-48“sind die Wege, die wir nun gehen, so leer eingezeichnet, wie wir sie auch vorfinden. Das meditative Kuhgebimmel am Schweinegger Weiher, piepsende Enten und ein Motorflieger, der über die Burgruinen von Hohenfreyberg und Eisenstein fliegt: Der Sound des späten Vormittags dehnt die Zeit – und ist das nicht schon ein Hallen der Autobahn, das da mitschwingt in den Ohren? Oder war es der Traktor, von dem Erwin springt, einen großen Rechen in der Hand?
Den treffen wir nämlich hinter der nächsten Kurve: Arbeitshose, kurzes Hemd und wenig Zeit. Brigitte, seine Frau, recht schon an der steilen Böschung das geschnittene Gras zusammen. Handarbeit? Wo doch schon die kleineren Traktoren, die uns begegnen, die Größe von Doppelgaragen haben? „Das ist Landschaftspflege“sagen die beiden. Man schneidet es halt ab, damit es nicht braun wird und unschön aussieht. Und hier kommst du nicht ran mit der Maschine. Fünfmal im Jahr wird gemäht. 60 Kühe brauchen Futter, sagt Erwin und recht. Der Tourismus? Wird jedes Jahr noch mehr. Es gibt Orte, an die geht man gar nicht mehr hin, weil es einfach nicht mehr so ist wie früher. Erst recht, seit sie die Straße gerichtet haben. Aber was soll’s, die Region lebt ja davon. Sie bleiben lieber bei den KüWir hen. Idealismus klar, aber der Sohn macht weiter. Und jetzt haben sie sogar einen Melkroboter wegen ihm. Andere Zeiten. Überhaupt, die Jungen: gehen alle in die Industrie. Mehr Geld, weniger Arbeit. Und im Allgäu gibt es gute Industrie! Aber zufrieden sind die dann auch nicht. Brigitte und Erwin schon, das merkt man. Auch wenn es jetzt weitergehen muss. Für uns auch. Dahinten ist die Autobahn, da müssen wir drüber.
Vor der Kapelle Schwarzenbach, deren schönes Holztürmchen etwas Bommelmützenhaftes hat, kreuzen sich ein paar Sträßchen. Auf einer kommt uns ein Ehepaar aus Stuttgart entgegen – auf E-Bikes. Man müsste einmal eine Untersuchung in Auftrag geben, wie es heute ohne diesen Schwung um den Allgäu-Tourismus stünde… Jedenfalls, die beiden kommen seit vielen Jahren – und haben inzwischen eine Wohnung hier. „Wir lieben das Allgäu, es ist einfach schön hier, man kann schwimmen, radfahren, wandern und im Winter Ski fahren“, schwärmen sie. Ein Blick noch auf die Karte, alles klar, und weg sind sie. Wir folgen den kleinen weißen Schildern, die scheinbar jeden Weiler kennen, in die andere Richtung. Aggenstein und Breitenberg im Rücken geht es fort mit Muskelkraft.