Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (40)
AEin Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg
lle ihre Glieder zitterten, ihre Augen strahlten, sie hatte sich auf die Kniee emporgehoben, streckte plötzlich ihren abgemagerten Arm gegen den Knaben aus, der sie verwundert betrachtete, und schrie: „Tragt dieses Kind fort! Die Zigeunerin kommt!“
Sie sank wie leblos auf das Pflaster zurück und ihr Kopf schlug mit großem Geräusch auf dem Stein an. Die drei Frauen glaubten sie todt. Bald aber erhob sie sich wieder und kroch auf Händen und Füßen dem Winkel der Zelle zu, wo der kleine Schuh war.
Voll Entsetzen zogen die Weiber ihre Köpfe zurück, sie wagten nicht hinzublicken. Jetzt hörten sie tausend Küsse und tausend Seufzer, vermischt mit herzzerreißendem Geschrei und dumpfen Stößen, wie wenn man mit dem Kopfe gegen eine Mauer rennt. Ein furchtbarer Stoß erfolgte, auf ihn tiefe Stille.
„Sie hat sich wohl getödtet,“sagte Gervaise und blickte durch die Oeffnung. „Schwester Gudula!“
„Schwester Gudula!“wiederholte Oudarde.
„O mein Gott, sie rührt sich nicht mehr!“rief Gervaise; „sie ist todt. Gudula! Gudula!“
Mahiette, der bisher das Mitleid die Stimme erstickt hatte, neigte sich plötzlich gegen die Oeffnung und rief: „Paquette! Paquette Chantefleurie!“
Dieser Ruf erschütterte den ganzen Körper der Klausnerin, sie sprang auf ihren nackten Füßen in die Höhe, war mit einem Satz an der Oeffnung und blickte mit so flammenden Augen heraus, daß die drei Weiber erschrocken zurückbebten. „Oh! Oh!“schrie sie mit wahnwitzigem Gelächter, „die Aegypterin ruft mich!“
In diesem Augenblicke ging am Driller eine Scene vor, welche den düsteren Blick der Klausnerin fesselte. Entsetzen und Abscheu auf ihrem fahlen, finsteren Gesichte, streckte sie ihre beiden abgemagerten Arme durch das Gitter heraus und rief mit einer Stimme, die dem Geschrei einer unheilverkündenden Nachteule glich: „Bist du wieder da, Tochter aus Aegyptenland! Rufst du mich wieder, du Kinderdiebin! Verflucht, verflucht, verflucht seist du in Ewigkeit!“
XVIII. Eine Thräne für einen Tropfen Wasser
Diese Worte waren, so zu sagen, der Verbindungspunkt zwischen den beiden Scenen, welche in dem gleichen Augenblicke in paralleler Richtung von einander, jede auf ihrem besonderen Schauplatz aufgeführt worden waren: die eine vor dem Rattenloche, wie man bereits gelesen, die andere vor der Leiter des Drillers, die wir nun erzählen wollen. Die eine derselben hatte bloß die drei Frauen, welche der Leser bereits kennt, zu Zeugen, der anderen wohnten als Zuschauer die Volkshaufen an, die sich, wie wir oben gesehen, auf dem Grèveplatz um den Schandpfahl und Galgen drängten.
Diese Menge, die den Driller neugierig umlagerte, zeigte keine allzugroße Ungeduld. Sie betrachtete einstweilen den Driller, der aus einfachem Mauerwerk, etwa zehn Fuß hoch und innen hohl war. Eine sehr steile Staffel von unbehauenem Stein führte auf den Altan, auf welchem ein horizontales Rad von Eichenholz war. Auf diesem Rade band man den Patienten, knieend und mit auf den Rücken gebundenen Armen fest. Ein hölzerner Balken, der eine im Innern des kleinen Gebäudes verborgene Winde in Bewegung setzte, gab dem Rad eine immer im horizontalen Plane erhaltene Schwingung und kehrte auf solche Weise das Gesicht des Verurtheilten allmählig allen Punkten des Platzes zu. Dies hieß einen Verbrecher drillen. Der Patient kam endlich, mit auf den Rücken gebundenen Armen, auf einem Karren an, und nachdem man ihn auf den Schandpfahl hinaufgewunden hatte, erscholl der ganze Platz von ungeheurem Gelächter und Zuruf. Man hatte Quasimodo den Buckligen erkannt.
Er war es in der That. Der Wechsel der Dinge war seltsam. Jetzt geknebelt und gedrillt auf dem nämlichen Platze, wo er am Abend zuvor, den Herzog von Aegypten, den König von Kauderwelsch und den Kaiser von Galiläa in seinem Gefolge, triumphirend aufgezogen und von der jubelnden Menge als Pabst und Fürst der Narren begrüßt und ausgerufen worden war.
Jetzt gebot Michel Noiret, geschworner Trompeter unseres Herrn, des Königs, den Bürgern und Insassen Stille und rief mit lauter Stimme das Urtheil des Prevot aus. Quasimodo, ruhig und unbeweglich, verzog keine Miene. Seine Bande waren so fest geschnürt, daß sie ihm jeden Widerstand unmöglich machten. Auf seinem Gesichte war nichts zu erkennen, als das dumpfe Staunen eines Wilden oder Blödsinnigen. Er war taub und man hätte ihn auch für blind halten können. Man hieß ihn niederknieen, er knieete. Man entblöste seinen Rücken bis zum Gürtel, er ließ es geschehen. Man befestigte ihn an den Driller, er rührte sich nicht. Bloß von Zeit zu Zeit blies er mit Geräusch den Athem von sich, wie ein Kalb, dessen Kopf auf dem Karren des Schlächters hinten überhängt.
„Der Lümmel,“sagte Johannes Frollo, der Mühlenhans, zu seinem Freunde Robin Poussepain (denn beide waren natürlich dem Spektakel nachgelaufen), „er weiß so wenig, was mit ihm vorgeht, als ein Maikäfer, den man in eine Schachtel einschließt.“
Die Menge lachte wie toll, als sie Quasimodo’s bloßen Höcker, seine haarige Brust und seine hornartigen Schultern erblickte. Inzwischen stieg ein Mann von untersetzter und starker Gestalt, in der Livrée der Stadt Paris, auf die Plattform und stellte sich in die Nähe des Patienten. Sein Name lief alsbald von Mund zu Mund. Es war Pierrat Torterue, geschworner Stockmeister des Chatelet.
Er warf seinen Rock ab und nahm in die rechte Faust eine dünne Peitsche von weißen Riemen, die mit metallenen Nägeln besetzt waren. Hierauf streifte er mit der linken Hand das Hemd am rechten Arme auf.
Bei diesem Anblick schrie Johannes Frollo mit der Stimme eines Ausrufers: „Schaut her, Ihr Herren und Frauen, man wird allhier geißeln den Meister Quasimodo, Glöckner meines Bruders, des Archidiakonus an der Liebfrauenkirche, ein Schaustück orientalischer Baukunst, dessen Rücken ein Dom, und dessen Beine gewundene Säulen sind!“
Die Menge brach in ein unermeßliches Gelächter aus. Jetzt stampfte der Stockmeister mit dem Fuße auf den Boden. Das Rad setzte sich in Bewegung, Quasimodo fing an zu schwanken. Die Bestürzung, die sich plötzlich in seinen mißgestalteten Zügen abzeichnete, verdoppelte ringsum das allgemeine Gelächter. Als jetzt das Rad in seinem Umschwung dem Meister Pierrat Quasimodo’s Höcker zukehrte, hob er den Arm. Die dünnen Riemen pfiffen durch die Luft und fielen mit Macht auf die bloßen Schultern des Unglücklichen herab.
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