Immer sind „die da oben“schuld
Das Stück zur Stunde: Es sind Wahlen und die Spitzenkandidatin kann keinen Schatten auf ihrer Person gebrauchen. Theresia Walser beeindruckt mit ihrem uraufgeführten Drama „Die Empörten“
Salzburg Im schönen Irberstheim hat es ein Unglück gegeben. War es ein Infarkt am Steuer? Ein Selbstmord? Ein Amoklauf? Ein Attentat? Jedenfalls ist ein Pizzabote mit seinem Auto in der Fußgängerzone in eine Menschengruppe gerast. Ein Todesopfer, Muslim, und zehn Verletzte. Der Fahrer: ebenfalls tot. Er liegt im Leichenschauhaus, woraus ihn die Bürgermeisterin von Irberstheim, Corinna Schaad, mit ihrem Bruder Anton heimlich entführt und ausgerechnet im Rathaus in einer Truhe versteckt. Denn der Crashfahrer ist ihr eigener Halbbruder Moritz, 19. Negativschlagzeilen kann die Bürgermeisterin jetzt nicht gebrauchen – es sind ja Wahlen und Corinnas Chancen noch gut.
In Irberstheim geht das Gerücht, der Pizzafahrer habe „Allahu Akbar“geschrien. Deshalb muss der offiziell noch nicht identifizierte Moritz verschwinden, das würde ihr erst Mal über die Runden helfen. Es soll kein Schatten fallen auf Corinnas prosperierendes Iberstheim, das Marktführer für Titanhüften ist und Kaffeefilter bis Katar exportiert!
Im Rathaus steht die Trauerfeier für das Todesopfer des Fußgängerzonenunglücks an. Rund um die alte Truhe, die schon von Fliegen umschwirrt wird und verdächtig müffelt – es ist Hochsommer – kommen außer der Bürgermeisterin und Anton die im AfD-Jargon redende Gegenspielerin Elsa Lerchenberg, Frau Achmedi, die Witwe des Opfers sowie Pilgrim, die rechte Hand der Rathauschefin, zusammen. Eine Konstellation, die es in sich hat und die durch Missverständnisse gehörig unter Dampf gehalten wird.
Denn alle verfolgen ihre eigenen Interessen, jeder hat etwas anderes zu verbergen, alle reden aneinander vorbei und jeder hört nur sich selbst zu. Der politische Diskurs untereinander ist ätzend und vorurteilsbeladen. Jede und jeder gegen jede und jeden. „Versöhnungsterrorist“nennt Corinna ihren lamentierenden Bruder Anton, der ihr wiederum „daherbuchstabiertes Menschlichkeitsgesülze“vorwirft. Elsa findet, „Toleranz ist nichts als Koketterie der Sterbenden“, sie wettert gegen „Völkermischorgien“und „Selbstauslöschungsgeilheit“, wohingegen Corinna konstatiert, Elsa krieche „dem Volksarsch ins Loch.“Ein Ringen um die Deutungshoheit über das Unglück, das natürlich instrumentalisiert wird.
Ausgedacht hat sich diese finstere Komödie die für ihre Stücke mehrfach ausgezeichnete Dramatikerin Theresia Walser (*1967). „Die Empörten“wurden Sonntagabend als Koproduktion des Staatstheaters Stuttgart und der Salzburger Festspiele uraufgeführt. Es war die letzte Festspielpremiere im Schauspiel – und ein Höhepunkt der Saison. Walsers hochaktuelles Gesellschaftsbild ist intelligent und witzig – vor allem aber messerscharf und funkelnd in seiner Sprachkraft, die Schöpfungen wie „Idyllen-Gülle“, „Nazizahnschmelz“, „Menschlichkeitsfurie“oder „podestsüchtiges Sonntagsredenmaul“hervorbringt.
Ohne Zeigefinger, ohne Menschlichkeitsgesülze, oft lustvoll gegen den Strich justiert Theresia Walser eine Haltung gegen rechts. Aktuell hat sie noch einen Schlussmonolog angehängt, der in der Buchfassung des Dramas nicht enthalten ist. Da lässt sie die Bürgermeisterin, großartig gespielt von Caroline Peters (die man als TV-Kommissarin Sophie Haas aus der TV-Kultserie „Mord mit Aussicht“kennt), über den neuen alten deutschen Rechtsradikalismus erklären: „Worte sind die Schatten der Taten. Die Taten stehen von Anfang an im Wort. Ein paar Jahre hatten wir keinen Schlamm, jetzt ist er wieder da, auch die Gier nach dem großen Sog ins Gedärm.“
In der souverän dienlichen, mätzchenfreien Inszenierung des Stuttgarter Schauspielintendanten Burkhard C. Kosminski entfalten sich „Die Empörten“auf der Bühne des Salzburger Landestheaters zu zwei Stunden plausiblen Theaters. Da wird unsere Zeit verhandelt. Es geht um das Primat der Wirtschaft, um Flüchtlinge, Ängste und Nebeneinanderherleben. Dass die Bürgermeisterin, der das „Menschliche“so wichtig ist, täglich Drohbriefe, Hassmails und Kuverts mit „Bürgerscheiße“bekommt und Gegner ihr verweste Ratten vor die Türe legen – es ist Alltag. „Rädern, aufschlitzen, abknallen, steinigen, verbrennen – auch bei den Morddrohungen gibt’s nichts wirklich Neues“, berichtet Pilgrim, ihr Amtmann-Faktotum, gespielt vom wunderbaren André Jung, der in seinem Frack wie ein Theo-LingenWiedergänger daherkommt und daran zerbricht, das Lichtschranken an Türen auf jeden Dackel, nicht mehr aber auf ihn reagieren. Pilgrim ist der Meinungslose.
Viele Themen mischt Walser in ihr flottes Zweistunden-Drama, in dem die Akteure die Sprachlust zelebrieren. Auch Söders Kreuzerlass spielt eine Rolle. Ein herrlicher Streit um ein Kruzifix im Rathaus zieht sich durchs Stück. Einmal knöpft sich Corinna Schaad die klassische Klage-Leerformel der Stammtische und Leserbriefe vor. „Die da oben! Immer denken alle nur: die da oben! Als sei das Leben nichts als ein Da-unten und Daoben! Die da oben sind schuld, wenn wieder ein Leben nicht gelingt, sich nicht endlich das Glück einstellt, als sei Glück nichts als ein Bausparvertrag, in den Generationen über Generationen schon vor deiner Geburt eingezahlt haben. Und wenn’s dann wieder nicht kommt, dieses Glück, sind’s wieder die da oben, die es dir nicht ausbezahlen!“
Wie die verzerrten Weltbilder sich verfestigen, zeigt sich an der geschmeidig-schneidigen Renegatin Elsa Lerchenberg (Silke Bodenbender), der Gemeinderatsvorsitzenden mit ihrem AfD-Sprech, deren Eltern Maoisten waren und die selbst noch als „Kind auf Rudi Dutschkes Rücken ritt“. Sie sagt: „Man liest, was man denkt“– und erzählt dann, dass in der „Regimezeitung“eine „Straßensteinigung“angekündigt sei. Sie beharrt auf Straßensteinigung, selbst wenn da Straßenreinigung steht. „Die Empörten“steuern auf immer groteskere und absurdere Dialoge zu – am Ende glaubt Frau Achmedi, dass die Leiche ihres Mannes in der 500 Jahre alten Truhe liegt, in der übrigens Luther sich schon vor Verfolgung versteckt haben soll und gerüchteweise auch Hitler … Gerüchte, Mutmaßungen, Unterstellungen prägen die öffentliche Meinung.
Wie alle versuchen, der kopftuchtragenden, vermeintlichen Immigrantin Frau Achmedi (Anke Schubert) süßlich-menschlich ums Maul zu gehen – das kostet das Ensemble auf der Bühne aus. Bis dann diese Frau Achmedi in einem furiosen Monolog erklärt, sie sei kein Flüchtling, sondern hier geboren, leider wegen Fabrikansiedlung aus ihrem geliebten Viertel Hasenheide vertrieben worden – und zuletzt hätten sie und ihr Mann „Wand an Wand mit Balkandreck, Ostblockdreck, Kurdendreck und Schlampen“gelebt. Das Schlimmste sei, „das wir alle Dreck sind, dass wir da leben wollen müssen, wo wir alle Dreck sind, und jeder zeigt dem anderen den Dreck, der er ist.“Es ist eine Abrechnung mit dem Schönreden der verständnisvollen Bürgermeisterin, den Appellen an Verständnis und Geduld.
Starker Applaus und eine bewegte Theresia Walser auf der Bühne. ⓘ
In Stuttgart ab 19. Januar 2020
Auch bei den Morddrohungen nichts wirklich Neues