Der Cowboy aus dem Allgäu
Andere 14-Jährige fahren in den Sommerferien mit den Eltern ans Meer, hängen mit Freunden oder vor dem Fernseher ab. Roman kümmert sich in 1900 Metern Höhe um 118 Kälber und Jungrinder. Aus dem faszinierenden Leben eines Hirtenbuben
Oberstdorf Eine Szene wie aus dem Western. Mit zusammengekniffenen Augen, die rechte Hand schützend gegen das Sonnenlicht gehalten, späht Roman Vogler vom Gipfel des Einödsbergs. Der 14-jährige Hirtenbub hat eine ungewöhnliche Entdeckung gemacht: Menschen. Gleich zwei.
Sie rütteln an der verschlossenen Tür zur Alphütte in etwa einem Kilometer Entfernung. „Öha“, sagt Roman, „was wollen die da?“Er zückt sein Fernglas, beobachtet die Fremden. Sie tragen große Rucksäcke, schwere Schuhe und rote Köpfe. Roman atmet erleichtert aus, als sie nach kurzer Pause weitermarschieren. „Sind bloß Wanderer“, gibt er Entwarnung.
Begegnungen wie diese sind für den drahtigen Buben mit dem karierten Hemd und der Adlerfeder am Filzhut den Sommer über eine Ausnahme. Nur ein bis zwei Mal pro Woche verschlägt es Ausflügler auf den schwer zugänglichen Einödsberg in 1900 Metern Höhe. Weder Seilbahn noch Straße führen dort hinauf. Es gibt noch nicht einmal einen beschilderten Weg.
Für Roman ist die abgeschiedene Lage ein Segen: „Ich brauch’ das Chaos da unten nicht“, sagt der Mittelschüler aus Oberstdorf. Zum vierten Mal in Folge entflieht er in den Sommerferien dem Trubel der Touristenhochburg und geht als Hirtenbub „seinem“Älpler Patrick Schuster, 32, zur Hand. Nach Angaben des Alpwirtschaftlichen Vereins Allgäu verbringen etwa 150 Kleinhirten zwischen acht und 16 Jahren ihre Ferien auf einer Alpe im Allgäu.
Wenn Gleichaltrige die Welt bereisen, springt Roman 118 Kälbern und Jungrindern, im Allgäu Schumpen genannt, im Gebirge hinterher. Er schlägt Zaunpfähle in den Boden, treibt das Vieh von einer Weide zur nächsten, bringt es abends zum Nachtlager in Hüttennähe und behält jedes einzelne Tier im Auge. Dafür marschiert er weite Strecken. Zur Einödsberg-Alpe, die auf dem Gebiet der „Manfred Kurrle Naturschutzstiftung Allgäuer Hochalpen“liegt, gehört eine Fläche von 140 Fußballfeldern. Fast ausschließlich in steiler Lage. Pro Tag legt Roman gut über 1000 Höhenmeter zurück. Meistens im Sauseschritt.
London, Paris oder ein Strandkorb an der Adria? Darauf verzichtet er in den Sommerferien freiwillig. Genauso wie auf Laptop oder Fernseher. Als Unterhaltungsprogramm genießt er den Flug des Steinadlers und das Bimmeln auf der Weide. Roman erkennt jedes Rind am Klang seiner Schelle. Und die Rinder erkennen ihn. Wenn er die Hand ausstreckt, beschnuppern sie ihn zutraulich. „Hier oben auf dem Einödsberg ist es am schönsten. Da bin i frei und langweilig wird’s nie“, sagt Roman, der auf der Alpe freie Kost und Logis hat und von Älpler Schuster am Ende des Sommers mit einem Taschengeld und – wichtiger noch – einer handgefertigten Kuhschelle belohnt wird.
Wenn er mit dem Vieh auf dem lang gezogenen Grat des Gras- und Blumenberges steht, blickt er auf seine Lieblingswahrzeichen: die Gipfel seiner Heimat. „Trettach, Mädelesgabel, Hochvogel, Ifen oder Höfats. Alles da. Man muss sich bloß umschauen“, sagt Roman und macht eine ausholende Handbewegung. Umgeben von der großen Natur fühlt er sich nicht klein, sondern kräftig und voller Energie: „Hier kann i sein, wie i bin“, sagt Roman.
Er redet nicht viel. Aber wenn er etwas sagt, bringt er die Dinge auf den Punkt. Ein waschechter Allgäuer. Schon sein Großvater und sein Vater, der heute bei der Marktgemeinde Oberstdorf arbeitet, waren in ihrer Jugend Kleinhirten. Dazu muss man nicht unbedingt von einem Bauernhof stammen. Oft nehmen Älpler Buben und teils auch Mädchen aus der eigenen Familie oder von Freunden mit auf den Berg. So begann auch die Kleinhirten-Karriere von Roman. Schon als Achtjähriger erfüllte er sich einen Traum und verbrachte ein paar Wochen auf der Alpe von Bekannten in Oberstaufen. „Das war genauso, wie ich es mir vorgestellt hab. Klar vermisst man seine Familie. Aber richtig Heimweh hatte ich zum Glück nie“, erinnert sich Roman.
Zwei Jahre später fragte ihn Patrick Schuster, ob er mit auf den Einödsberg wolle. Roman sagte sofort zu. Ihn reizte die Herausforderung einer hoch gelegenen Galtalpe, auf der im Unterschied zu einer Sennalpe nur Jungrinder und keine Milchkühe stehen. „Es ist ein wahnsinniger Aufwand, den wir hier oben betreiben“, sagt Älpler Schuster. Um immer nah am Vieh zu sein, zieht er mit seinem Kleinhirten mehrmals pro Sommer um. In insgesamt drei Hütten in unterschiedlicher Höhe quartieren sich die beiden ein.
Gefahr droht, wenn „ein Wetter aufzieht“, wie sie es nennen. Gemeint sind heftige Gewitter, die mit rollendem Donner, grellen Blitzen und prasselndem Niederschlag über den weltentrückten Ort fegen, das grasende Vieh in Aufruhr versetzen und auf gefährliche Stellen zutreiben. In solchen Situationen gibt es für Schuster nur eine Devise: Erst muss der Kleinhirte in Sicherheit gebracht werden, dann das Vieh. Um ihn selbst geht es zuletzt. Nicht immer endet die Mission glimpflich. Die Alpe „Hinterer Einödsberg“(1555 Meter hoch) dient als Basislager.
Drei Rinder starben vor fünf Jahren bei einem Blitzschlag. „Das war furchtbar. In dem Moment habe ich mich schon gefragt, ob ich der richtige Mann am richtigen Ort bin“, gesteht Schuster. Doch er ist wieder aufgestanden. Vielleicht weil er weiß, dass außer ihm kaum jemand den Kraftakt im hochalpinen Gelände stemmen könnte.
Die Arbeit auf dem Einödsberg setzt Hilfe aus der Luft voraus. Ein Helikopter-Pilot fliegt vor der Saison in mehreren Ladungen schweres Material und Verpflegung nach oben. Zum Beispiel sage und schreibe 1000 Holzpfähle für die Zäune! Neben Gasflaschen, Salzsteinen, Getränken, Dosen, Nudeln oder Reis liefert er auch die Ausrüstung für Hirtenbub Roman. Allein sechs Paar Bergschuhe gehören dazu. Ein nötiges Rüstzeug für Regentage voller Matsch, Nässe, Rutschgefahr und Kälte. Und zugleich eines von vielen Beispielen für die Veränderungen in der Alpwirtschaft. Bis in die Nachkriegsjahre hinein soll es im Allgäu Hirtenbuben gegeben haben, die sich an kalten Tagen barfuß in dampfende Kuhfladen stellten, um sich die Füße zu wärmen. Die Zeit am Berg war für die Burschen das „Härtemittel fürs Leben“, schrieb der Allgäuer Bergführer Willi Wechs (1901-1984) aus Bad Hindelang in seinen Memoiren. Und sie hatte für die oft armen Familien der Kleinhirten auch ökonomische Gründe: „Man hatte einen Esser weniger im Haus.“Wechs erinnerte sich daran, wie er von seinem Alpmeister „wie ein Kälble“gemustert worden sei, ehe dieser ihn zum „sömmern“, wie man es im Volksmund nannte, mit auf eine Alpe im Ostrachtal nahm. Kurios: Dort oben bekam er nur durch Zufall vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit. Als der gewohnte morgendliche Alphorn-Klang auf einer benachbarten Alpe verstummte, wurde er stutzig und erfuhr, dass die Männer zum Militär eingezogen worden waren. Für Roman sind solche Geschichten heute unvorstellbar. Im Gegensatz zu manchen Hirten aus früheren Generationen ist er seinen Eltern dankbar, dass sie ihn auf die Alpe lassen. Mit seinem Handy, das auch am Einödsberg Empfang hat, steht er mit ihnen und dem Rest der Welt in Verbindung. Allerdings verwendet er es nur im Notfall. Lieber läuft er mit offenen Augen durch die Natur: „Man lernt so viel. Zum Beispiel, wie sich Tiere verhalten und warum.“In Älpler Patrick Schuster hat er Chef, Freund und Vorbild in einem.
Vollbart, kräftige Waden, Schwielen an den Händen: Der 32-Jährige entspricht nicht nur optisch dem Klischee eines Älplers. Er verfügt auch über jenen verschmitzten Humor, der seine Zunft seit jeher auszeichnet. Eine der schönsten historischen Anekdoten rankt sich um die Begegnung eines Oberstdorfer Senns mit Prinzregent Luitpold, zu dessen Jagdgebiet auch der Einödsberg gehörte. Weil er die Arbeit des kantigen Allgäuers schätzte, beschenkte der hohe Herr ihn mit einer edlen Prinzregentenzigarre aus seinem Etui. Nach einigen tiefen Zügen fragte der Wittelsbacher, wie ihm die Rauchware schmecke. Darauf der Senn: „Woll, woll. Waischt Luitpold, i reich an jedan Dreck.“
Wenn Patrick Schuster einem Städter erklären soll, was er auf seiner Alpe so treibt, antwortet er: „I bin der Weidemanager ...“Auch mit Hirtenbub Roman ist der Umgangston spaßig-locker. Genauso, wie es Patrick Schuster selbst erlebt hat. Natürlich fing auch er mal als Kleinhirte an. Heute ist er seit 13 Jahren Älpler am Einödsberg. Im Herbst und Winter arbeitet er als Zimmerer im Tal; im Frühjahr und Sommer am Berg. „Der Patrick ist sehr gut zu den Tieren und er strahlt immer Ruhe aus“, sagt Roman und fügt lächelnd an: „Also fast immer ...“
Dass es ab und zu scheppert zwischen den Allgäuer Cowboys, daraus machen sie kein Geheimnis. „Wichtig ist, dass man sich danach wieder gut versteht und abends gemeinsam Karten spielt.“
Für Schuster ist Kleinhirte Roman eine große Hilfe. „Er packt an, denkt mit und ist hart im Nehmen. Ohne ihn wäre es schwierig. Einen Angestellten könnte ich mir nicht leisten.“Wie eingespielt die beiden sind, zeigt sich auch abseits der Arbeit. In der Einödsberg-Einsamkeit beschlossen sie im Vorjahr, mit ihren Familien eine gemeinsame Fernreise zu machen. So kam es, dass Älpler und Kleinhirte samt Anhang in den Osterferien zwei Wochen lang am Strand in Thailand lagen. Doch schon bald packte die beiden die Unruhe. „Nur umanand hocken, goht für uns it!“Roman zog die Konsequenzen. Der Kleinhirte will eine Ausbildung zum Zimmermann machen – und danach im Frühjahr und Sommer als Älpler arbeiten. Genau wie Patrick Schuster.
Wen der Berg ruft, der kann sich der Verlockung nicht entziehen.
„Hier kann i sein, wie i bin“