Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (43)
Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg
Alle Junker auf dreißig Stunden in der Runde strebten nach dieser Auszeichnung für ihre Töchter, und Viele hatten sie bereits nach Paris gebracht oder geschickt. Die genannten jungen Damen waren der Hut der ehrwürdigen Dame Aloise de Gondelaurier anvertraut, welche die Wittwe eines Kapitäns der königlichen Bogenschützen war und sich mit ihrer einzigen Tochter in ihr Haus an der Ecke der Straße Parvis, der Liebfrauenkirche gegenüber, zurückgezogen hatte.
Der Balkon, auf welchem die jungen Mädchen waren, öffnete sich gegen ein reich tapezirtes Zimmer. Im Hintergrunde desselben, am Kamin, saß in einem reichen Armstuhl von rothem Sammt die Dame Gondelaurier, deren 55 Jahre in ihrer Kleidung sowohl, als auf ihrem Gesichte zu lesen waren. Neben ihr stand ein junger Mann, dessen Gesicht ziemlich vielen Stolz, auch zugleich keine geringe Dosis von Eitelkeit und Anmaßung aussprach, kurz einer jener schönen Männer, über deren Schönheit
alle Weiber einig sind, während der ernste Physiognom die Achsel darüber zuckt. Dieser junge Cavalier trug die glänzende Uniform eines Hauptmanns der königlichen Bogenschützen.
Die Damen saßen theils auf dem Balkon, theils in dem Zimmer; jede hielt auf ihren Knieen den Zipfel einer großen Stickerei, an welcher sie gemeinschaftlich arbeiteten. Sie unterhielten sich unter einander mit jener kichernden Stimme und dem halberstickten Lachen einer Versammlung junger Mädchen, in deren Mitte sich ein junger Mann befindet. Der junge Mann, dessen bloße Gegenwart schon alle diese weiblichen Eitelkeiten in Bewegung setzte, schien sich nur wenig um sie zu kümmern, und während jedes dieser schönen Mädchen seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen suchte, putzte er gleichgültig mit seinem hirschledernen Handschuh die Schnalle an seinem Leibgürtel.
Von Zeit zu Zeit sprach die alte Dame leise mit ihm, und er antwortete ihr, so gut er vermochte, mit einer Art linkischer Höflichkeit. Aus der lächelnden Miene, aus kleinen Zeichen guten Einverständnisses der alten Dame, aus den Blicken, welche sie bisweilen auf ihre Tochter Fleurde-Lys schießen ließ, während sie leise mit dem Kapitän sprach, ließ sich leicht erkennen, daß von einer bereits vollzogenen Verlobung, von einer ohne Zweifel nahen Heirath zwischen dem jungen Manne und Fleur-de-Lys die Rede war. Aus der verlegenen Kälte des Offiziers ergab sich jedoch, daß es sich, von seiner Seite wenigstens, nicht mehr um Liebe handelte. Sein ganzes Gesicht drückte Verlegenheit und Verdruß aus, und man sah ihm an, daß er hier eine Art Frohndienst verrichtete. Die gute Dame, ganz vernarrt in ihre Tochter, wie Mütter zu sein pflegen, nahm seinen Mangel an Enthusiasmus nicht wahr, und machte ihm mit leiser Stimme bemerklich, mit welcher unendlichen Vollkommenheit und Grazie Fleur-de-Lys ihre Nadel handhabe.
„Seht doch einmal, Vetterchen,“flüsterte sie ihm ins Ohr, indem sie ihn am Aermel zu sich herabzog, „seht doch, jetzt bückt sie sich über die Arbeit!“
„Wahrhaftig!“antwortete der junge Mann und fiel in sein zerstreutes und kaltes Stillschweigen zurück.
Einen Augenblick darauf mußte er sich aufs Neue zu ihrem Ohre neigen und Dame Aloise sprach zu ihm: „Habt Ihr je ein einnehmenderes und liebreizenderes Gesicht gesehen, als das Eurer Zukünftigen? Kann es etwas Weißeres und Blonderes geben? Sind das nicht vollendete Hände? Und dieser Hals, nimmt er nicht zum Bezaubern alle Biegungen des Schwans an? Wahrhaftig, ich beneide Euch selbst bisweilen! Ihr seid glücklich, ein Mann zu sein, und Ihr verdient es kaum, Ihr lockerer Geselle! Ist nicht meine Fleur-de-Lys anbetungswürdig schön, und seid Ihr nicht ganz rasend in sie verliebt?“
„Allerdings!“erwiederte er und dachte an etwas Anderes.
„So redet doch mit ihr,“sagte die Dame plötzlich und stieß ihn an der Schulter weg, „sagt ihr etwas Schönes! Ihr seid ja gar zu schüchtern.“
Die Schüchternheit war übrigens weder die Tugend noch der Fehler des Offiziers. Er machte nun einen Versuch, dem Genüge zu leisten, was man von ihm verlangte.
„Schöne Base,“sprach er zu Fleur-de-Lys, „welches ist der Gegenstand dieser Stickerei?“
„Schöner Vetter,“antwortete Fleur-de-Lys mit verdrießlicher Betonung, „ich habe Euch schon dreimal gesagt, daß es die Grotte Neptuns ist.“
Augenscheinlich besaß Fleur-deLys einen helleren Blick als ihre Mutter, und die Kälte und Zerstreutheit ihres Bräutigams waren ihr nicht entgangen. Er fühlte daher die Notwendigkeit, irgend ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen.
„Und für wen ist diese Stickerei bestimmt?“fragte er.
„Für die Abtei Sanct Anton,“antwortete Fleur-de-Lys, ohne die Augen zu erheben.
Der Kapitän nahm eine Ecke der Tapete in die Hand: „Wer ist dieser dicke Gendarm, schöne Base, der mit vollen Backen in die Trompete bläst?“
„Es ist Trito.“
In den kurzen Antworten der Dame lag eine Betonung, die anzeigte, daß sie sich gekränkt fühle. Der junge Mann sah ein, daß er ihr nothwendig etwas ins Ohr sagen müsse, eine Galanterie, eine Dummheit, gleichviel.
Er neigte sich demnach zu ihrem Ohre, aber er konnte mit der ganzen Anspannung seiner Denkkraft keine zärtlichere und innigere Anrede finden, als folgende: „Warum trägt denn Eure Frau Mutter immer noch den alten, mit Wappen gestickten Rock, wie unsere Großmütter zur Zeit Karls VII.? Sagt ihr doch, schöne Base, daß dies nimmer Mode ist, und daß der Harnisch und Lorbeer auf ihrem gestickten Kleide ihr das Ansehen einer wandernden Tapete geben. So kleidet man sich heutzutage nimmer, das schwöre ich Euch.“
Fleur-de-Lys erhob ihre schönen Augen und erwiederte leise im Tone des Vorwurfs: „Ist das Alles, was Ihr mir schwört?“Die gute alte Dame, als sie so das liebende Paar, flüsternd und kosend, erblickte, sagte zu sich selbst: „Oh, rührendes Bild der Liebe!“Der Kapitän, immer verlegener, bückte sich auf die Tapete und sprach: „Eine herrliche Arbeit, so wahr Gott lebt!“
Colombe de Gaillefontaine, eine andere schöne Blondine, benützte diesen Ausruf und wagte furchtsam ein Wort, das sie an Fleur-de-Lys richtete, in der Hoffnung, daß der schöne Offizier es ihr beantworten werde: „Meine liebe Gondelaurier habt Ihr die Tapeten des Palastes Rouche-Gujon gesehen?“
„Ist das nicht der Palast, der den Garten der Weißzeughändlerin des Louvre einschließt?“fragte lachend Diana de Christeuil, die, weil sie schöne Zähne hatte, bei jeder Gelegenheit lachte.
„Und wo der große alte Thurm der alten Mauer von Paris steht?“fügte Amelotte de Montmichel hinzu, eine niedliche Brünette, welche die Gewohnheit hatte zu seufzen, wie die Andere zu lachen, ohne daß eine von Beiden wußte, warum.