Wie geht’s dem Kino?
2018 war das schlechteste Kinojahr seit Jahrzehnten in Deutschland. Dass gerade junge Menschen lieber Serien in Streaming-Diensten sehen, ist nur eines der Probleme der Branche
100 Millionen verkaufte Eintrittskarten: Das klingt zunächst imposant. Doch die Zahl täuscht: Die Deutschen sind Kinomuffel geworden. Während das vergangene Kinojahr in anderen Ländern für Rekordumsätze gesorgt hat, war hierzulande jeder Einwohner im Schnitt nur 1,3-mal in einem Filmtheater; Deutschland ist damit Schlusslicht in Europa. Die Kinobranche erklärte das mangelnde Interesse mit Fußball-WM und Jahrhundertsommer. Aber in Frankreich herrschte auch schönes Wetter, die französische Fußball-Nationalmannschaft wurde Weltmeister – und trotzdem war der durchschnittliche Franzose doppelt so oft im Kino wie der durchschnittliche Deutsche.
Wie geht’s also dem Kino in Deutschland? Jetzt, da – wieder einmal – dessen Zukunft thematisiert wird. Zuletzt etwa im Feuilleton dieser Zeitung im Artikel „Das Popcorn aber bleibt“.
Wer wissen will, mit welchen Problemen die Branche zu kämpfen hat, sollte mit dem aus Konstanz stammenden Regisseur Douglas Wolfsperger sprechen. Wegen seines jüngsten Films „Scala Adieu“. Der Titelzusatz „Von Windeln verweht“deutet an, worum es geht: Der beinahe 80 Jahre alte „Scala Filmpalast“im Konstanzer Stadtzentrum musste einem Drogeriemarkt weichen. Wolfspergers Film, der im März in die Kinos kam und der zuvor bei den 40. Biberacher Filmfestspielen als beste Dokumentation ausgezeichnet wurde, ist dabei mehr als nur ein Abgesang mit lokal begrenztem Charakter.
Das Scala, in dem Wolfsperger einst die Osterbeichte schwänzte, weil er lieber den neuen Film mit Louis de Funès sehen wollte, steht für all jene Traditionshäuser, die beim Wettbewerb mit den modernen Multiplexzentren den Kürzeren gezogen haben. Ähnlich wie Wolfsperger verloren auf diese Weise Filmfreunde im ganzen Land ein Stück ihrer Kindheit. Einer Kindheit, in der der Kinobesuch ein besonderes Erlebnis war. Das ist er heute offenbar nicht mehr, und damit ist der Verlust einer bestimmten „Kinokultur“eine Antwort auf die Frage: Wie geht’s dem Kino hierzulande?
Eine zweite Antwort für den Abschwung im Jahr 2018 findet man, wenn man an die 1950er Jahre denkt. In jener Zeit entstand den Filmtheatern Konkurrenz durch das „Pantoffelkino“– man musste nicht mehr ins Kino gehen, um bewegte Bilder zu erleben. Das lineare Fernsehen wurde zum Massenmedium. Inzwischen hat es – wie das Kino – starke Konkurrenz durch Streaming-Dienste wie Netflix und Amazon Prime Video bekommen. Die Devise für namhafte Hollywood
Regisseure lautet: „Fernsehen ist das neue Kino“. Und die StreamingDienste trumpfen auch mit deutschen Serien auf, für „Dark“und „Beat“erhielten sie gar den Grimme-Preis. Ihre Produktionen sind vor allem bei jungen Zuschauern beliebt; die 20- bis 29-Jährigen bilden traditionell jedoch die Kernklientel des Kinos. In keiner Altersgruppe war der Besucherrückgang so groß wie in dieser.
Die Kinobranche antwortete darauf in den vergangenen Jahren einfallslos. Da sich die großen Holly
wood-Produktionen jenseits der 200-Millionen-Dollar-Marke bewegen, muss das Risiko eines Flops so weit wie möglich minimiert werden. Die Folge: Eingeführte Marken wie „Star Wars“, Fortsetzungen und Superhelden-Filme dominieren. Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger sagt: „Früher bot der Kinomarkt eine gewisse Bandbreite. Heute laufen, überspitzt formuliert, nur noch Hollywood-Blockbuster und ein paar Arthaus-Produktionen. Es fehlen Filme, die auch ein durchschnittlich anspruchsvolles jahreszeitraum wurden demnach 2,6 Millionen mehr Tickets verkauft, insgesamt 53,7 Millionen. Der Umsatz stieg um fünf Prozent auf 461,5 Millionen Euro. Die Kinohits des Halbjahres waren den Angaben zufolge „Avengers: Endgame“mit knapp fünf Millionen Besuchern und Caroline Links Film „Der Junge muss an die frische Luft“, der seit Januar fast drei Millionen Zuschauer hatte. (tpg, AZ)
Publikum ansprechen.“Man könnte auch sagen: Es fehlen einst innovative Regisseure wie Martin Scorsese („Taxi Driver“) oder Francis Ford Coppola („Der Pate“), die in den 1970er Jahren unter dem Etikett „New Hollywood“die Modernisierung des Kinos eingeleitet haben.
Die Branche selbst demonstriert dennoch Zuversicht. Alfred Holighaus, früherer Geschäftsführer der Deutschen Filmakademie und bis Ende März Präsident der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (Spio), sieht in rückläufigen Besucherzahlen „keinen Anlass für kulturpessimistischen Fatalismus“. Im Gegenteil: „In einer Zeit und in einem Land, da die Kinos in den Städten und in der Fläche oft die einzigen funktionierenden Angebote für Kultur und Kommunikation jenseits von Echokammern und Chat-Räumen sind, gewinnen sie an kulturund gesellschaftspolitischer Relevanz. Sie sind Alternativen zur Vereinsamung und Vereindeutigung.“Holighaus appelliert an die Filmtheaterbesitzer, dies auch „offensiv zu bewerben und zu beweisen: mit neuen programmatischen Ideen sowie mit Offensiven in technologischer und kommunikativer Hinsicht; gern auch mit Unterstützung der Politik.“
Martin Turowski, Vorstand des Hauptverbands Deutscher Filmtheater, lässt sich seine Zuversicht ebenfalls nicht nehmen: „Ich bin überzeugt, dass Kinos auch in Zeiten von Netflix eine besondere Anziehungskraft ausüben. Sich bewusst für einen Film zu entscheiden, ihn auf einer großen Leinwand zu erleben und gemeinsam mit anderen Zuschauern zu lachen und zu weinen: Das gibt es nur im Kino. Wir sind ein Kultur- und Kommunikationsort, der Menschen mit anderen Lebenswelten und Perspektiven vertraut macht und ganz konkret den Zusammenhalt unserer Gesellschaft fördert.“
Und was meint Regisseur Douglas Wolfsperger, der das Ende des „Scala Filmpalast“filmisch begleitete? In seiner Doku war er über die Frage nach dem Zustand der Kinobranche weit hinausgegangen. Er wollte die Fragen aufwerfen: Wem gehört eine Stadt überhaupt und welche Umgebung soll die kommenden Generationen prägen? Es gehe schließlich darum, „dass Orte, an denen wir träumen, zu Orten werden, an denen wir kaufen. Überall, wo Menschen leben“. So nachzulesen auf der für die Dokumentation erstellten Internetseite.
Wolfsperger also sagt: „Dem Kino ist ja schon öfter ein baldiger Tod prognostiziert worden, aber es ist immer noch da: Totgesagte leben eben länger.“Auch das beste Streaming-Angebot werde nicht zur Folge haben, „dass gerade die Filmfreunde meiner Generation ihr Popcorn in Zukunft zu Hause essen werden, wie die steigende Zahl der älteren Kinobesucher zeigt.“
Für die Generation Wolfspergers – er ist 61 Jahre alt – war das Kino allerdings stets mehr als ein Zeitvertreib. In Kleinstädten bot es oft die einzige Möglichkeit, der Enge des kleinbürgerlichen Alltags zu entkommen. Genau deshalb macht sich Wolfspergers Regiekollegin Doris Dörrie, 64, Sorgen um die Zukunft des Kinos: „Für junge Menschen ist es nicht mehr dieser mystische Ort, der es für uns war.“