Friedberger Allgemeine

Drei Schwestern, ein Vatermord

Jahrelang hatte er sie missbrauch­t. Irgendwann stachen sie zu. Den Mord an ihrem Vater haben die jungen Russinnen längst gestanden. Trotzdem fordern Tausende ihre Freiheit

- VON INNA HARTWICH

Moskau Sie haben die Polizei gerufen, haben alles gestanden: Ja, sie hätten ihren Vater in seinem Sessel angegriffe­n, auf den zunächst Schlafende­n eingestoch­en, mit dem Hammer auf ihn eingehauen, bis er sich schließlic­h nicht mehr rührte. Er ist der Mann, der ihnen jahrelang das Leben zur Hölle gemacht haben soll. 36 Stiche zählten die Ermittler später in seinem Körper.

Die Schwestern Kristina, Angelina und Maria Chatschatu­rjan, zur Tatzeit 19, 18 und 17 Jahre alt, ließen sich widerstand­slos abführen und befragen – und sind in Russland durch ihre schockiere­nde Tat zum Symbol eines Systems geworden, das häusliche Gewalt verharmlos­t. Menschen gehen für die drei Schwestern auf die Straße, sie legen Blumen vor der Generalsta­atsanwalts­chaft in Moskau ab, führen Theaterstü­cke und Konzerte für die jungen Frauen auf, die unter Auflagen und ohne jeden Kontakt zueinander seit mehr als einem Jahr auf ihre Verhandlun­g warten.

20 Jahre Haft drohen ihnen – wegen verabredet­en und gemeinsam begangenen Mordes. Das Strafverfa­hren könnte nun aber fallen gelassen werden, weil die Ermittler in diesen Tagen bestätigt hätten, so der Anwalt von Angelina Chatschatu­rjan, dass die Schwestern von ihrem gewalttäti­gen Vater Michail jahrelang missbrauch­t worden seien und körperlich­e wie psychische Schäden davongetra­gen hätten. Aus Angst um ihr Leben hätten die Schwestern in Notwehr gehandelt, für diese Deutung setzten sich die Verteidige­r der jungen Frauen von Anfang an ein. Kommt es zur Einstellun­g des Verfahrens, wäre es ein starkes Zeichen in einem Land, in dem Klapse und Kopfnüsse offiziell zur Erziehung von Kindern dazugehöre­n.

Erst im Frühjahr 2017 hatte das russische Parlament ein Gesetz zur „Entkrimina­lisierung von Prügeln in der Familie“verabschie­det und dadurch das Klima der Straflosig­keit aufseiten der Männer und der Hilflosigk­eit aufseiten der Frauen begünstigt. Häusliche Gewalt, auch wenn der Begriff in der russischen Gesetzgebu­ng nicht definiert ist, ist nur noch eine Ordnungswi­drigkeit und wird mit einem Bußgeld von durchschni­ttlich umgerechne­t 70 Euro geahndet. Zuvor drohten zwei Jahre Haft. Begründet wurde das Gesetz mit „traditione­llen Werten“wie Züchtigung­srechten des Familienva­ters. „Wir wollen nicht, dass zwei Jahre im Gefängnis sitzt, nur weil es einmal einen Klaps gegeben hat“, hatte damals Jelena Misulina, die Familienau­sschuss-Vorsitzend­e des Parlaments, gesagt. Das führe zur Verschlech­terung des Familienkl­imas und sei aus ihrer Sicht ein familienfe­indlicher Zustand.

Michail Chatschatu­rjan, ein in Moskau lebender Armenier, hatte seine Töchter über Jahre hinweg misshandel­t und sexuell missbrauch­t. Seine Ehefrau und den Erstgebore­nen hatte der Waffennarr mit kriminelle­m Hintergrun­d bereits vor Jahren aus der gemeinsame­n Wohnung geworfen, hatte Nachbarn terrorisie­rt. Die Behörden waren trotz mehrmalige­r Hinweise auf häusliche Gewalt bei den Chatschatu­rjans nicht eingeschri­tten. Auch als die Töchter länger in der Schule fehlten, soll das Jugendamt untätig geblieben sein. Der brutale Mord am Vater – die jüngste Tochter soll laut Gutachten bei der Tat unzurechnu­ngsfähig gewesen sein – erschien den Schwestern offenbar als einziger Ausweg aus ihrem Martyrium. Offizielle­n Angaben zufolge (aus dem Jahr 2013, aktuellere Zahlen liegen nicht vor) werden in Russland jedes Jahr 12000 Frauen von Verwandten getötet, alle Dreivierte­lstunde eine. 26000 Kinder werden täglich von ihren Eltern misshandel­t. Fast 80 Prozent aller wegen Mordes verurteilt­en Frauen im Land, heißt es in einer Untersuchu­ng des OnlinePort­als Mediazona, seien zuvor von gewalttäti­gen Partnern misshandel­t worden.

„In Russland herrscht das Recht des Stärkeren. Der Staat selbst setzt es ein. Bei Demonstrat­ionen dreschen die Polizisten auf friedliche Demonstran­ten ein, sie zerren sie in Gefangenen­transporte­r, bringen die Menschen mit vorgeschob­enen Gründen ins Gefängnis. In den Familien funktionie­rt das Prinzip ähnman lich: „Der Stärkere haut zu, wenn in seinen Augen seine Regeln missachtet werden“, sagt Anna Riwina, die vor vier Jahren das Online-Projekt nasiliu.net (Keine Gewalt) startete, „weil ich verstand, dass es jeden treffen kann und weil ich die Informatio­nen bündeln wollte, um den Opfern zu helfen“. Die 32-Jährige aus Moskau sagt: „Wir sind alle Schwestern Chatschatu­rjan.“

Häusliche Gewalt wird im Land oft als reine Familienan­gelegenhei­t betrachtet. „Wir lernen stets, unser Inneres nicht nach außen zu tragen. ,Behalt den Streit im Haus‘, predigt man uns von klein auf. Das prägt“, sagt die Juristin Tatjana Belowa vom „Konsortium der Frauen-Verbände“in Moskau, das Gewalt-Opfern juristisch­e Hilfe bietet. Der Fall der Chatschatu­rjan-Schwestern lässt die Menschen reden, lässt sie ihr Inneres nach außen tragen und so ein Stück weit das Tabu von Gewalt in den Familien brechen.

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 ?? Fotos: Krasilniko­v/Karpukhin, Tass, dpa ?? Sie wussten keinen anderen Ausweg mehr, als ihren Vater zu töten. So nehmen ihre Anwälte die drei Schwestern in Schutz: (im Uhrzeigers­inn) Kristina, Maria und Angelina Chatschatu­rjan.
Fotos: Krasilniko­v/Karpukhin, Tass, dpa Sie wussten keinen anderen Ausweg mehr, als ihren Vater zu töten. So nehmen ihre Anwälte die drei Schwestern in Schutz: (im Uhrzeigers­inn) Kristina, Maria und Angelina Chatschatu­rjan.
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