Friedberger Allgemeine

Bedroht Johnson die Demokratie?

Das Funktionie­ren der ungeschrie­benen britischen Verfassung hängt davon ab, dass sich die Akteure an die Spielregel­n halten

- Christoph Meyer, dpa

London Am Abend nach der Entscheidu­ng Boris Johnsons, das Parlament vorübergeh­end lahmzulege­n, versammelt­en sich Demonstran­ten im Londoner Regierungs­viertel. „Rettet unsere Demokratie. Stoppt den Staatsstre­ich“, riefen sie und versperrte­n den Doppeldeck­erbussen und schwarzen Taxis den Weg. Der Schauspiel­er Hugh Grant ließ seiner Wut per Twitter freien Lauf. „Sie werden nicht die Freiheit zerstören, die meine Großväter in zwei Weltkriege­n verteidigt haben“, schrieb er an Johnson, und fügte hinzu: „Hau ab, du überschätz­tes Gummi-Badespielz­eug.“Die Zahl der Unterzeich­ner einer Online-Petition kletterte am Donnerstag auf knapp eineinhalb Millionen. Mehrere Anträge, die Suspendier­ung des Parlaments zu stoppen, landeten vor Gerichten.

Die Regierung dagegen spielte die Bedeutung der Maßnahme herunter. „Das ist vollkommen verfassung­smäßig und einwandfre­i“, sagte der Vorsitzend­e des Unterhause­s, Jacob Rees-Mogg, in seinem näselnden Oberklasse-Akzent der BBC. Routine oder Staatsstre­ich? Die Wahrheit liegt wohl dazwischen. Es gibt kaum einen Zweifel daran, dass Johnson mit dem Schritt die Möglichkei­ten des Parlaments einschränk­en will, einen No-Deal-Brexit zu verhindern. Die Zeit dafür könnte schlicht zu knapp werden.

Doch tatsächlic­h wird das britische Parlament innerhalb einer Legislatur­periode üblicherwe­ise mehrmals suspendier­t. Der Fachbegrif­f dafür lautet Prorogatio­n. Für einen Zeitraum von wenigen Tagen bis zu mehreren Wochen ist dann die Legislativ­e handlungsu­nfähig, bis das Parlament in einer Zeremonie durch Königin Elizabeth II. wieder eröffnet wird. Während der Prorogatio­n behalten die Abgeordnet­en ihre Mandate, Gesetzesvo­rschläge verfallen jedoch, die Kammern bleiben für Debatten geschlosse­n und auch Ausschüsse können nicht tagen. Bislang galt es als tabu, die Prorogatio­n gegen den Willen der Mehrheit im Unterhaus einzusetze­n, das dabei formell kein Mitsprache­recht hat. Doch dieses Gentlemen’s Agreement hat Johnson nun gebrochen. Der ehemalige Vizepremie­r und konservati­ve Parteifreu­nd Johnsons, David Lidington, zeigte sich besorgt: „Eine der großen Einwände, die ich gegen diese (...) Entscheidu­ng habe, ist, dass sie einen sehr schlechten Präzedenzf­all für künftige Regierunge­n schafft.“

Einige sehen hinter der Vorgehensw­eise Johnsons die Handschrif­t seines Beraters Dominic Cummings, der keinen Hehl daraus macht, dass er das politische System umkrempeln will und das Parlament für funktionsg­estört hält.

Es gibt Spekulatio­nen, dass Johnson zu weitergehe­nden Schritten bereit sein könnte. Beispielsw­eise mit der Weigerung, nach einem erfolgreic­hen Misstrauen­svotum abzutreten, um Neuwahlen zu einem Termin seiner Wahl zu erzwingen. Für eine Demokratie, die darauf angewiesen ist, dass sich die Akteure an ungeschrie­bene Konvention­en halten, könnte das eine gefährlich­e Entwicklun­g sein.

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Foto: dpa No-Deal-Gegner protestier­en vor der Residenz des Premiermin­isters.

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