Bedroht Johnson die Demokratie?
Das Funktionieren der ungeschriebenen britischen Verfassung hängt davon ab, dass sich die Akteure an die Spielregeln halten
London Am Abend nach der Entscheidung Boris Johnsons, das Parlament vorübergehend lahmzulegen, versammelten sich Demonstranten im Londoner Regierungsviertel. „Rettet unsere Demokratie. Stoppt den Staatsstreich“, riefen sie und versperrten den Doppeldeckerbussen und schwarzen Taxis den Weg. Der Schauspieler Hugh Grant ließ seiner Wut per Twitter freien Lauf. „Sie werden nicht die Freiheit zerstören, die meine Großväter in zwei Weltkriegen verteidigt haben“, schrieb er an Johnson, und fügte hinzu: „Hau ab, du überschätztes Gummi-Badespielzeug.“Die Zahl der Unterzeichner einer Online-Petition kletterte am Donnerstag auf knapp eineinhalb Millionen. Mehrere Anträge, die Suspendierung des Parlaments zu stoppen, landeten vor Gerichten.
Die Regierung dagegen spielte die Bedeutung der Maßnahme herunter. „Das ist vollkommen verfassungsmäßig und einwandfrei“, sagte der Vorsitzende des Unterhauses, Jacob Rees-Mogg, in seinem näselnden Oberklasse-Akzent der BBC. Routine oder Staatsstreich? Die Wahrheit liegt wohl dazwischen. Es gibt kaum einen Zweifel daran, dass Johnson mit dem Schritt die Möglichkeiten des Parlaments einschränken will, einen No-Deal-Brexit zu verhindern. Die Zeit dafür könnte schlicht zu knapp werden.
Doch tatsächlich wird das britische Parlament innerhalb einer Legislaturperiode üblicherweise mehrmals suspendiert. Der Fachbegriff dafür lautet Prorogation. Für einen Zeitraum von wenigen Tagen bis zu mehreren Wochen ist dann die Legislative handlungsunfähig, bis das Parlament in einer Zeremonie durch Königin Elizabeth II. wieder eröffnet wird. Während der Prorogation behalten die Abgeordneten ihre Mandate, Gesetzesvorschläge verfallen jedoch, die Kammern bleiben für Debatten geschlossen und auch Ausschüsse können nicht tagen. Bislang galt es als tabu, die Prorogation gegen den Willen der Mehrheit im Unterhaus einzusetzen, das dabei formell kein Mitspracherecht hat. Doch dieses Gentlemen’s Agreement hat Johnson nun gebrochen. Der ehemalige Vizepremier und konservative Parteifreund Johnsons, David Lidington, zeigte sich besorgt: „Eine der großen Einwände, die ich gegen diese (...) Entscheidung habe, ist, dass sie einen sehr schlechten Präzedenzfall für künftige Regierungen schafft.“
Einige sehen hinter der Vorgehensweise Johnsons die Handschrift seines Beraters Dominic Cummings, der keinen Hehl daraus macht, dass er das politische System umkrempeln will und das Parlament für funktionsgestört hält.
Es gibt Spekulationen, dass Johnson zu weitergehenden Schritten bereit sein könnte. Beispielsweise mit der Weigerung, nach einem erfolgreichen Misstrauensvotum abzutreten, um Neuwahlen zu einem Termin seiner Wahl zu erzwingen. Für eine Demokratie, die darauf angewiesen ist, dass sich die Akteure an ungeschriebene Konventionen halten, könnte das eine gefährliche Entwicklung sein.