Es gibt Lösungen für die Krise im Mittelmeer
Titel-Thema Der Experte Gerald Knaus hatte mit seinem Konzept für den EU-Türkei-Pakt die Kanzlerin aus ihrer größten Krise gerettet. Sein Plan beendete die Massenflucht über den Balkan. Wie er jetzt das Sterben auf hoher See stoppen will
Herr Knaus, mit einem bestechend pragmatischen und logischen Plan haben Sie vor vier Jahren mit Ihrer Denkfabrik „Europäische Stabilitätsinitiative“entscheidend geholfen, die Flüchtlingskrise zu entschärfen. Auf Ihrem Konzept basiert das EU-Türkei-Abkommen, das die Massenflucht über den Balkan beendet hat. Haben Sie je einen Dankesbrief von Kanzlerin Angela Merkel bekommen? Gerald Knaus: Nein, so funktioniert das nicht. Es ist ja umgekehrt: Ich bin dankbar. Experten machen Vorschläge, Politiker aber müssen Dinge umsetzen, Risiken eingehen, diese verantworten – und werden dafür oft scharf angegriffen. Unter diesem Druck steht ein Experte selten. Die Kanzlerin und viele andere Politiker in Deutschland haben seit 2015 auf allen Ebenen des Landes in der Flüchtlingsfrage Humanität unter Druck verteidigt.
Auch Sie wurden damals für den EUTürkei-Deal von links wie von rechts scharf kritisiert. Sind Sie heute zufrieden mit der Umsetzung?
Knaus: Nein, das war ich noch nie. Die Umsetzung hätte immer viel besser laufen müssen. Dennoch stimmt auch: Ohne die Einigung im März 2016 wäre sicher alles schlimmer gekommen. Konkret sind seitdem in der Ägäis sehr viel weniger Menschen ertrunken, in diesem Jahr im ganzen östlichen Mittelmeer 57. Allein im Januar 2016 waren es aber noch fünfmal so viel Tote. Die EU finanziert zudem ein historisches Hilfsprogramm für monatlich mehr als 1,7 Millionen Flüchtlinge in der Türkei. Die Umsiedlung von 20 000 Flüchtlingen aus Griechenland hat ja tatsächlich erst nach März 2016 ernsthaft begonnen. Dazu ist die Zahl der Leute, die über den Balkan nach Europa kamen, von einer Million in zwölf Monaten auf dann 26000 in den zwölf Monaten nach der Einigung gefallen.
Viele kritisieren noch heute, dass sich die EU mit Präsident Recep Tayyip Erdogan auf einen Deal einließ. Knaus: Man muss zwischen den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und der türkischen Flüchtlingspolitik unterscheiden. Die Türkei war 2015 und ist heute das Land der Welt mit den meisten Flüchtlingen. Im letzten Jahr war sie auch das Land, in dem die Zahl neuer Flüchtlinge am meisten zugenommen hat. Hier muss Europa helfen, und dafür muss man mit der Türkei und ihrer Regierung kooperieren.
Aber?
Knaus: Bei anderen Dingen sollte man ehrlich sein. Die EU hat ein Interesse daran, dass die Türkei die Bedingungen des Visa-Liberalisierungsfahrplans erfüllt und ihre Menschenrechtslage verbessert. Und dann kann sie auch die Visapflicht für türkische Besucher aufheben. Dass das bislang nicht geschah, war nicht die Schuld der EU. Die EU hat anderswo versagt.
Wo versagt die EU?
Knaus: Auf den griechischen Inseln, von Anfang an. Die Zustände in den Hotspots sind eine Schande. Dabei fehlt es nicht an Geld, es fehlt an einem Konzept. Wenn pro Tag nur 50 Menschen alle diese Inseln erreichen wie in der ersten Hälfte des Jahres 2017, dann...
Dann?
Knaus: Dann gibt es keine Entschuldigung dafür, dass es der EU mit Griechenland nicht gelang, Entscheidungen innerhalb weniger Wochen zu treffen, wer in der EU bleiben soll und wer keinen Schutz in der EU braucht. Tausende werden auch auf den Inseln festgehalten, obwohl schon längst entschieden wurde, dass sie nicht in die Türkei zurückgeschickt werden.
Warum ist die Rückführung der abgelehnten Flüchtlinge so wichtig? Knaus: Die humanste Art, illegale Migration zu reduzieren, sind schnelle Rückführungen all jener, die keinen Schutz in Europa brauchen. Sowie die Unterstützung von Ländern, in denen sich Flüchtlinge bereits befinden. Will man die Krise mit Flüchtlingen im Mittelmeer nachhaltig lösen, brauchen wir deshalb humane Aufnahmezentren in Griechenland, Italien oder Spanien, in denen innerhalb einiger Wochen fair über den Schutzstatus entschieden wird – und von wo, etwa in der Ägäis, abgelehnte Asylbewerber zurückgeschickt werden.
Glauben Sie, dass mit einer anderen Politik das Sterben auf dem Mittelmeer verhindert werden kann? Knaus: Ja. 2019 sind in acht Monaten etwa 50000 Menschen über das gesamte Mittelmeer gekommen – und wir schaffen das nicht? Es braucht allerdings andere Strukturen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Asylbehörden in den Niederlanden, in Frankreich, in der Schweiz sollten direkt mit Griechen und Spaniern zusammenarbeiten. Wir brauchen an der richtigen Stelle die Beamten, Übersetzer, Anwälte als Rechtsbeistand und Berufungskommissionen. Und wir brauchen Mechanismen, um zu prüfen, was mit Abgeschobenen in den Monaten danach passiert. All das fehlt heute. Wenn wir es dann schaffen, bei Menschen aus Senegal, Nigeria, Gambia, Elfenbeinküste und Guinea, wo die meisten keinen Anspruch auf Schutzstatus haben, in acht Wochen statt wie heute in jahrelangen Verfahren über Rückführungen zu entscheiden, werden sich deutlich weniger Menschen auf den Weg nach Europa machen.
Was macht Sie da so sicher?
Knaus: Wir haben es mit jungen Menschen zu tun, die Risiken oft ausblenden und die Gefahr erst spät klar sehen. Seit 2013 ist eine gewaltige Zahl von Menschen im Mittelmeer umgekommen. Aber von den über 600 000 Menschen, die sich aus Libyen nach Italien auf dem Weg gemacht haben, haben es 98 Prozent nach Europa geschafft. Sie wurden gerettet und konnten dann Jahre in der EU bleiben. Wenn ihre Bekannten Bilder von ihnen sehen, unterschätzen sie die Gefahr und das große Risiko, in Libyen gefoltert zu werden. Wenn Menschen aber bemerken, dass das Risiko höher als 50 Prozent ist, zwei Monate nach einer so gefährlichen Reise zurückgebracht zu werden, hat das einen Effekt. Das ist eine humane Art der Entmutigung, mit der wir das Ziel erreichen, dass weniger Menschen ertrinken. Europa muss alles tun, um unnötiges Leid zu vermeiden. Dass können wir tun, heute.
Bislang scheitert die Rückführung an der Aufnahmebereitschaft der Herkunftsländer … Knaus: Ja, das gelang bislang niemandem, auch einem polternden italienischen Innenminister Salvini nicht. Deshalb brauchen wir Realismus und Ehrlichkeit. Wir müssen Herkunftsländern Anreize bieten, ihre Interessen berücksichtigen, damit die Regierungen dort Lösungen auch als Erfolg verkaufen können. Wir arbeiten gerade mit der dortigen Regierung an einem Gambia-Plan. Gambia ist mit zwei Millionen Einwohnern ein kleines Land. Aber in den letzten Jahren ist einer von 50 Gambiern nach Europa gekommen.
Wie sieht Ihr Gambia-Plan aus? Knaus: Gambia erklärt sich bereit, ab einem Stichtag jeden Bürger, der sich nach diesem Datum illegal nach Deutschland aufmacht, von dort schnell zurückzunehmen – ebenso alle Straftäter. Denn seit Februar 2019 gibt es aus der ganzen EU gar keine Abschiebungen nach Gambia. Im Gegenzug erhalten Gambier, die bereits in Deutschland sind, eine Aufenthaltserlaubnis, um eine Ausbildung machen und arbeiten zu können. Zudem bietet Deutschland nicht nur Entwicklungshilfe, sondern in einem begrenzten Umfang auch legale Einwanderungsmöglichkeiten – etwa, indem man in Gambia auch Frauen ausbildet, damit sie in Deutschland in der Pflege arbeiten können, wo händeringend Personal gesucht wird.
Interview: Michael Pohl
„Die humanste Art, illegale Migration zu reduzieren, sind schnelle Rückführungen all jener, die keinen Schutz in Europa brauchen.“
Gerald Knaus
Gerald Knaus Der 48-jährige österreichische Experte für internationale Politik ist Gründer und Vorsitzender der Denkfabrik „Europäische Stabilitätsinitiative ESI“.