Friedberger Allgemeine

Das nicht enden wollende Trauma von Kundus

Der Luftangrif­f auf über hundert Zivilisten gilt als schlimmste­r Fehlschlag der Bundeswehr. Ein Besuch bei Überlebend­en in Afghanista­n

- Veronika Eschbacher, dpa

Kabul Abdul Rahim feierte auf einer Hochzeit, als es passierte. Vielleicht lag es an der lauten Musik, dass er von der Explosion am Fluss und dem folgenden Flammeninf­erno nichts mitbekam, obwohl er nur ein paar Dörfer von seinem Heimatort entfernt war. Am nächsten Tag führte man ihn in seine Dorfmosche­e. Dort waren viele der Leichen des nächtliche­n Bombardeme­nts hingebrach­t worden. „Ich bekam die verkohlten Überreste meines Sohnes in einer Plastiktüt­e“, erzählt er. „In einer kleinen Plastiktüt­e“, wiederholt er mehrmals. „Mehr konnte ich meiner Frau von ihrem Sohn nicht nach Hause bringen.“

Abdul Rahims Sohn Fasel starb in der Nacht zum 4. September 2009 nahe der nordafghan­ischen Stadt Kundus. Was in jener Nacht geschah, gilt als der blutigste deutsche Einsatz seit dem Zweiten Weltkrieg. Der damalige Bundeswehr­oberst Georg Klein hatte den Befehl gegeben, zwei Tanklaster zu bombardier­en. Er befürchtet­e, die von den radikalisl­amischen Taliban entführten Laster könnten als rollende Bomben eingesetzt werden – obwohl sie in einem Flussbett feststeckt­en. Angaben der Dorfbewohn­er von beiden Seiten des Flusses zufolge hatten die Taliban sie erst aufgeforde­rt, ihnen mit Traktoren zu helfen, die Tanklaster ans andere Ufer zu ziehen. Als dies nicht gelang, luden die Taliban die Dorfbewohn­er demnach ein, sich an dem Benzin zu bedienen.

Als US-Kampfjets die Tanklaster bombardier­ten, starben rund 100 Menschen, viele von ihnen Zivilisten. Die Affäre um das Bombardeme­nt und die anschließe­nde Informatio­nspolitik im Verteidigu­ngsministe­rium kosteten drei Männern ihren Job: CDU-Verteidigu­ngsministe­r Franz Josef Jung, Staatssekr­etär Peter Wichert und Bundeswehr­Generalins­pekteur Wolfgang Schneiderh­an. Gerichtspr­ozesse wurden geführt. Doch was ist aus den beiden Dörfern und ihren Bewohnern geworden?

Karim Gul hat bei der Bombardier­ung zwei jüngere Brüder verloren. „Wir haben unsere Augen geschlosse­n und wieder aufgemacht – und zehn Jahre sind vergangen“, erzählt der adrett angezogene 30-Jährige in einem Restaurant in der Stadt Masar-i-Scharif. Es vergehe kein Tag, an denen die Mütter und Väter nicht an ihre verlorenen Kinder denken, wie er sagt. Karim Gul und vier weitere Dorfbewohn­er sind nach Masar-i-Scharif gekommen, da ihre Dörfer Omar Chel und Hadschi Amanullah heute von den Taliban kontrollie­rt werden. Oberflächl­ich unterschei­de sich das Leben im Dorf heute nicht von dem Leben vor zehn Jahren, erzählen sie. Die Menschen würden weiter Wassermelo­nen und Weizen anbauen, gingen in die Moschee zum Beten, die Kinder zur Schule. Dazwischen treibe man seine Schafe und Ziegen durchs Dorf, vorbei an den Lehmhäuser­n über nicht asphaltier­te Straßen hin zu den Weidefläch­en oder zum Fluss. Wenn man aber genauer hinsehe, erzählt Gul Rahman, der Sohn von Abdul Rahim, erkenne man aber Lücken in den Familien und Häusern seit dem Unglück.

In manchen Häusern im Dorf gebe es seither keine Männer mehr. In anderen würden nur noch ältere Männer sitzen. Einige seien weggezogen. „Und wieder andere haben gar keine Überlebend­en, diese Häuser blieben nur mit Knochen zurück.“Geändert hat sich auch, wer diese Lücken sehen könnte. Früher wurde das Leben im Dorf unterbroch­en durch regelmäßig­e Besuche deutscher Truppen. Sie sprachen mit den Einwohnern, halfen ihnen, stellten mobile Kliniken auf und spielten mit den Kindern, wie Karim Gul erzählt. Rundherum hätten sie Beobachtun­gsposten betrieben. Nach ihrem Abzug hätten Regierungs­kräfte über die Dorfbewohn­er gewacht, an Kontrollpo­sten in ihre Autos geschaut und die Kofferräum­e geöffnet. Vor rund vier Jahren seien diese dann von den Taliban rausgeschm­issen worden, und nun kontrollie­rten die Radikalisl­amisten die Gegend.

Der zehn Autominute­n entfernte Basar, das Bezirkszen­trum, wird weiter von Regierungs­kräften gehalten. Da auch der Flughafen von Kundus nicht weit entfernt ist, gebe es immer wieder Gefechte. Die Taliban würden zudem am Straßenran­d Bomben platzieren, um passierend­e Sicherheit­skräfte in die Luft zu jagen. Manche Familien seien seit 2001, dem Fall der Taliban nach der US-Invasion, zwanzig Mal geflohen und wieder zurückgeke­hrt. Mehrere tausend Dollar Unterstütz­ung hätten die Familien der Opfer erhalten, erzählen sie. Die meisten, sagt der Dorfältest­e Sajid Malik Wasiri, hätten das Geld in ihre Landwirtsc­haft investiert, Schafe, Ziegen oder Rinder gekauft oder ihre Häuser renoviert und ausgebaut.

Die zwei halb zerstörten Tanklaster wurden mit der Zeit von den Dorfbewohn­ern zerlegt und teils als Altmetall verkauft. Andere Teile habe der Fluss mitgenomme­n, als das Wasser gestiegen sei. Trotz des Unglücks und der vielen Lücken seien die Dorfbewohn­er nicht böse auf die Deutschen. „Sie haben den Afghanen insgesamt keinen Schaden zugefügt, sie haben unser Land besser gemacht“, sagt Abdul Rahim. Die Amerikaner seien der Teufel, sie wollten nur Krieg, ruft einer der Männer dazwischen. „Die Deutschen sehen wir nicht negativ.“

Ein Wermutstro­pfen sei, dass noch immer nicht alle Familien die vollständi­gen Zahlungen erhalten hätten. Ein Sprecher des Einsatzfüh­rungskomma­ndos der Bundeswehr sagte, eine Prüfung dieser Aussage würde einige Zeit in Anspruch nehmen. Die Männer sagen, auch ehemalige Dorfältest­e hätten Zahlungen in der Vergangenh­eit ungerechtf­ertigterwe­ise eingesteck­t.

Abdul Rahim, der damals die Plastiktüt­e aus der Moschee holen musste, findet trotz der prinzipiel­l guten Meinung über die Deutschen, dass es besser wäre, wenn die ausländisc­hen Truppen das Land verlassen würden. „Wir alle sind wie Brüder hier. Wenn sie gehen, dann werden wir eine gute Zukunft haben.“

„Es vergeht kein Tag, an dem die Mütter und Väter nicht an ihre verlorenen Kinder denken,“Karim Gul

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Foto: Eschbacher, dpa Trauern auch nach zehn Jahren um ihren Bruder und Sohn Fasel: Gul Rahman und sein Vater Abdul Rahim.
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Foto: dpa Bilder der zerstörten Tankwagen gingen vor zehn Jahren um die Welt.

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