Hat sich Boris Johnson verzockt?
Für den Premierminister folgt derzeit ein Rückschlag auf den nächsten. Jetzt wendet sich sogar sein Bruder ab
London Diese Woche dürfte sich für Boris Johnson wie eine Ewigkeit anfühlen. Es läuft nicht für den Premierminister, die Rückschläge kommen mittlerweile beinahe im Stundentakt. Nun hat sogar die eigene Familie genug. Gestern warf sein jüngerer Bruder, Jo Johnson, aus Protest gegen den kompromisslosen Kurs hin, gab sein Amt als Staatssekretär sowie sein Mandat als konservativer Abgeordneter auf. „Ich war in den vergangenen Monaten zerrissen zwischen Loyalität zur Familie und dem nationalen Interesse – es ist eine unauflösbare Spannung“, schrieb er auf Twitter und versah seine Nachricht am Ende mit #overandout – „aus und vorbei“.
Ist es das auch schon bald für Boris Johnson? Er stelle solch eine Bedrohung dar, dass ihm selbst sein eigener Bruder nicht vertraue, kommentierte die Labour-Abgeordnete Angela Rayner gestern den überraschenden Schritt. Johnson steht unter immensem Druck. In den eigenen Reihen der Konservativen Partei regt sich zunehmend Widerstand, nachdem er diese Woche 21 rebellische Tory-Abgeordnete aus der Fraktion ausgeschlossen hat, darunter Schwergewichte wie Alterspräsident Ken Clarke, Ex-Schatzkanzler Philip Hammond oder Nicholas Soames, Enkel von Kriegspremier Winston Churchill. Sie hatten mit der Opposition paktiert und so der Regierung gleich zwei schwere Niederlagen im Parlament zugefügt.Das Unterhaus segnete einen Gesetzentwurf ab, der einen ungeordneten Brexit ohne Abkommen verhindern soll. Nun braucht es noch die Zustimmung vom Oberhaus, womit bis zum heutigen Freitag gerechnet wird. Doch damit nicht genug. Johnsons rabenschwarzer Tag endete damit, dass sein Antrag auf Neuwahlen abgelehnt wurde. Darüber hinaus büßte er diese Woche seine Mehrheit ein. Bevor sein Bruder hinschmiss, war bereits Phillip Lee zu den Liberaldemokraten übergelaufen.
Der europaskeptische Hardliner will trotzdem nicht aufgeben. Gestern eröffnete Johnson inoffiziell den Wahlkampf, indem er sich am Abend mit einer Rede an das Volk wenden wollte. Die Menschen sollten, so der Premier, die Möglichkeit erhalten, zu entscheiden: zwischen ihm, Boris Johnson, der in Brüssel einen Deal aushandeln wolle, und falls dies scheitere, am 31. Oktober ohne Abkommen aus der EU scheiden würde. Oder Jeremy Corbyn, der in Brüssel mit „seinem Kapitulationsgesetz“ankäme, um eine weitere Verschiebung betteln und jegliche Bedingungen akzeptieren würde, „die die EU unserer Nation aufdrängt“. Der konservative Regierungschef spekuliert darauf, dass die oppositionelle Labour-Partei einlenkt, sobald das No-No-Deal-Gesetz in Kraft tritt
. Das könnte bereits am Montag der Fall sein. Die Regierung plant, noch am selben Tag ein Votum im Unterhaus anzuberaumen, um so vor dem Stichtag am 31. Oktober Neuwahlen abzuhalten. Boris Johnson pocht auf den 15. Oktober, zwei Tage vor dem EU-Gipfel, auf dem er mit Brüssel einen neuen Vertrag vereinbaren will.
Mittlerweile bezweifeln sogar skeptische Parteikollegen, dass der Regierungschef es ernst meint mit seiner Ankündigung, sich mit der EU auf einen Kompromiss einigen zu wollen. Vielmehr befürchten seine Kritiker, dass Johnsons Plan darin besteht, sich mit Hilfe einer Neuwahl ein Mandat für einen NoDeal-Brexit zu beschaffen. Die Frage ist, ob sich Labour darauf einlässt. Oppositionschef Jeremy Corbyn zögert noch, Neuwahlen zuzustimmen, auch wenn er seit Monaten nichts anderes gefordert hatte.
Der Premier dagegen sollte Corbyns Weigerung gestern „eine feige Beleidigung der Demokratie“nennen. Etliche Labour-Abgeordnete pochen darauf, erst nach dem 31. Oktober abstimmen zu lassen. Plötzlich könnte ihnen die Zwangspause, die Johnson dem Parlament verordnet hat, bei ihrem Hinhalteplan zugutekommen. Schafft es Johnson nicht, vorher die nötige Zweidrittelmehrheit zu erzielen, um Neuwahlen auszurufen, würde die Zeit für einen Wahltermin noch im Oktober vermutlich zu knapp.