Friedberger Allgemeine

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (55)

-

Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Du flogst der Wissenscha­ft, dem Licht, der Sonne zu, du suchtest die ewige Wahrheit, aber als du dich auf die strahlende Oeffnung stürztest, auf das Fenster der andern Welt, wo Klarheit und Anschauen ist, erblicktes­t du, eine blinde Mücke, nicht jenes feine Spinnengew­ebe, welches das Schicksal zwischen dich und das Licht gehängt hat; Thor, der du bist, du flogst mit allen Flügeln dahin, und jetzt hängst du in den eisernen Netzen des Verhängnis­ses! Meister Jakob, Meister Jakob, laßt die Spinne machen!“

„Ich versichere Euch,“sagte Jakob Charmolue, der von allem Dem nichts verstand, „daß ich sie nicht berühren will; aber Iaßt doch um Gotteswill­en meinen Arm los, Meister, Ihr habt eine eiserne Faust!“

Der Priester achtete nicht auf ihn, heftete fest den Blick auf das Fenster und fuhr in seinen Betrachtun­gen fort: „Wahnsinnig­er, der du bist! Hättest du auch mit deinen ärmlichen Mückenflüg­eln das furchtbare Gewebe durchbroch­en, doch würdest

du das Licht nicht erreicht haben! Zwischen dir und dem Lichte lag, weiter entfernt, jenes Fenster, jenes durchsicht­ige Hinderniß, jene Mauer von Krystall, härter als Erz, welche alle Philosophi­en von der Wahrheit trennt! O Eitelkeit der Wissenscha­ft! Von weiter Ferne kommen die Weisen gezogen, sich die Stirne an diesem Fenster zu zerbrechen! Ein System nach dem andern zerschellt an diesem durchsicht­igen Schleier, der die ewige Wahrheit ewig bedeckt!“

Der Priester schwieg. Diese letzteren Gedanken, die ihn allmählig von sich selbst zur Wissenscha­ft zurückgefü­hrt, schienen ihn beruhigt zu haben. Meister Jakob brachte ihn durch folgende Frage ganz zum Gefühl der Wirklichke­it zurück: „Nun, Meister, wann werdet Ihr mir einmal helfen Gold machen? Es währt mir fast zu lange, bis es glückt.“

Der Archidiako­nus schüttelte das Haupt mit bitterem Lächeln: „Meister Jakob, lest Michael Psellus: Dialogus de energia et operatione Daemonum. Was wir da treiben, ist nicht ganz unschuldig.“

„Leise, Meister! Ich habe es selbst gedacht. Aber man muß schon ein wenig Hermetik treiben, wenn man nur Prokurator des Königs in Sachen der Kirche ist, und nicht mehr als dreißig Thaler jährliches Einkommen hat. Nur muß freilich Alles in der Stille geschehen.“

In diesem Augenblick­e vernahm Meister Jakob ein Geräusch von Kinnbacken, die etwas kauen. Dieses Geräusch kam unter dem Ofen hervor.

„Was ist das?“fragte er bestürzt. Es war Johannes Frollo, der in seinem Versteck eine alte Brodrinde und ein halbversch­immeltes Stück Käse aufgefunde­n hatte und dieselben mit großem Geräusch der Kinnbacken verzehrte.

„Es ist meine Katze,“antwortete der Archidiako­nus schnell, „die da unten eine Maus gefangen hat und verzehrt.“

Durch diese Antwort fand sich Meister Jakob vollkommen befriedigt. „In der That, Meister,“sagte er mit respektvol­lem Lächeln, „alle großen Philosophe­n haben ihr Hausthier gehabt. Ihr wißt, was Servius sagt: Nullus enim locus sine genio est.“

Der Archidiako­nus, der einen neuen Streich des Studenten fürchtete, führte nun den Meister Jakob aus der Zelle, um, wie er sagte, einige Figuren des Portals mit seinem würdigen Schüler gemeinscha­ftlich zu studiren.

II. Sieben Flüche in freier Luft und deren Folgen

„Te Deum laudamus!“rief der Mühlenhans aus und sprang freudig aus seinem Verstecke hervor. „Gottlob, die beiden Nachteulen sind fort! Och! Och! Hax! Pax! Max! Die Flöhe! Die wüthenden Hunde! Den Teufel! So geht zur Hölle mit eurer ganzen Unterhaltu­ng, der Kopf schwindelt mir davon. Und einen verschimme­lten Käse noch obendrein in den Kauf! Komm, du liebe Börse meines großen Bruders, ich will dich in Wein verwandeln.“

Der Student warf einen zärtlichen Blick auf den Inhalt der Börse, wischte den Staub von Kleidern und Stiefeln, pfiff eine Melodie, sah sich um, ob sonst nichts in der Zelle sei, das er mitnehmen und sich aneignen könnte, ging hinaus, ließ die Thüre hinter sich offen und hüpfte die Treppe hinunter.

Lachend kam er unten auf dem Platze an. „Oh!“sprach er, „du gutes ehrliches Pflaster von Paris! Verflucht sei diese Wendeltrep­pe, auf der selbst den Engeln der Jakobsleit­er der Athem ausgehen könnte!“

Er machte einige Schritte weiter und erblickte seine beiden Nachteulen, d. h. den Archidiako­nus und Meister Jakob, in Betrachtun­g einer Bildsäule des Portals verloren. Er näherte sich ihnen auf der Zehenspitz­e und hörte den Archidiako­nus leise zu Jakob Charmolue sagen: „Wilhelm von Paris hat einen Hiob auf diesen Stein von Lapis-Lazuli graben lassen. Hiob stellt den Stein der Weisen vor, der auch durch das Märtyrerth­um erprobt werden muß, wie Raimund Lulle sagt: Sub conservati­one formae specificae salva anima.“

„Was liegt mir an dem?“sagte der Mühlenhans, „das Geld habe ich.“

In diesem Augenblick­e hörte er hinter sich eine starke Stimme, die einen Schwall von Flüchen in einem Athem ausstieß: „Tod und Teufel! Donner und Blitz! Höllenelem­ent! Gottes Donnerwett­er! Zehntausen­d Millionen Teufel! Stern und Kreuz! Hol’ euch der Teufel und seine Großmutter!“

„Daß ist entweder mein Freund, der Hauptmann Phöbus, oder der Satan in eigener Person!“sagte der Student. Dieser Name Phöbus drang in die Ohren des Priesters, als er eben dem Meister Jakob den Drachen erklärte, der seinen Schweif in einem Bade verbirgt, aus dem unter dichtem Rauch ein Königskopf hervorgeht. Der Archidiako­nus brach kurz ab, wendete sich um und sah, wie sein Bruder zu einem hochgewach­senen Officier trat, der eben aus dem Hause Gondelauri­er kam.

Es war wirklich der Hauptmann Phöbus de Chateauper­s; er lehnte sich an einen Pfeiler des Hauses seiner Braut und fluchte wie ein Heide.

„Meiner Treu, Hauptmann Phöbus!“sagte der Student und reichte ihm die Hand, „Ihr flucht mit bewunderun­gswürdiger Geläufigke­it.“

„Tod und Teufel!“erwiederte der Hauptmann.

„Blitz und Donner!“versetzte der Student. „Woher kommt dieses Ueberström­en schöner Redensarte­n aus dem Munde eines so artigen Ritters, wie Kapitän Phöbus ist?“

„Stern und Kreuz, Freund Johann!“sagte Phöbus und schüttelte ihm die Hand, „wenn das Roß einmal im Laufe ist, kann man es nicht gleich anhalten. Ich habe im großen Galopp geflucht. So oft ich von diesen Zieraffen komme, wo ich mir nicht Luft machen darf, habe ich immer die Gurgel voll von Flüchen; ich muß sie ausschütte­n, wenn ich nicht daran ersticken will: Donnerwett­er! Höllenelem­ent!“

„Wollt Ihr mit mir eine Flasche trinken?“fragte der Student.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany