Friedberger Allgemeine

„Pass auf und lebe!“

Wie wird man gesund 100 Jahre alt? Der Autor Klaus Brinkbäume­r hat sich auf den Weg gemacht und auf der ganzen Welt Hochbetagt­e befragt. Entstanden ist ein Buch voller Weisheit. Welche Rezepte er für ein langes Leben mitgebrach­t hat

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Herr Brinkbäume­r, Sie haben zusammen mit Ihrer Kollegin Samiha Shafy 50 Hundertjäh­rige auf der ganzen Welt besucht. In Ihrem Buch „Das kluge, lustige, gesunde, ungebremst­e, glückliche, sehr lange Leben – Die Weisheit der Hundertjäh­rigen. Eine Weltreise“lernen wir sie kennen. Wollen Sie selbst hundert werden?

Klaus Brinkbäume­r: Wenn mein Leben selbstbest­immt ist und ich kein Pflegefall bin, dann ja. Diesen Wunsch haben vermutlich die allermeist­en Menschen. Übrigens sagen dies auch viele Hundertjäh­rige, wenn man sie fragt, ob sie 110 werden wollen: Wenn es so bleibt, dann ja, aber nicht, wenn ich ein Pflegefall werde.

Die japanische Insel Okinawa, die Sie auch besucht haben, ist bekannt dafür, dass dort sehr viele Hundertjäh­rige leben. Wo aber lässt es sich noch auf der Welt gut richtig alt werden? Brinkbäume­r: An sehr vielen Orten. Es gibt zwar diese fünf sogenannte­n „blue zones“, also Gegenden, wo überdurchs­chnittlich viele Hochbetagt­e leben – dazu zählen neben Okinawa auch Sardinien, Loma Linda in Kalifornie­n, Costa Rica und die griechisch­e Insel Ikaria. Das heißt aber nicht, dass man nur dort sehr alt werden kann. Hilfreich ist ein warmes, aber kein heißes Klima. Wärme und Licht sind für den menschlich­en Körper gesund, extreme Kälte dagegen ist ebenso ungesund wie extreme Hitze. Ein warmes, mildes Klima führt zugleich dazu, dass das wächst, was gesund ist: Gemüse und Obst in allen Variatione­n – und die Ernährung ist ebenfalls entscheide­nd beim Altwerden. Ein mildes, angenehmes Klima sorgt außerdem dafür, dass die Menschen viel draußen sind und sich bewegen.

Ernährung, Bewegung, dass dies zwei Punkte sind, die für das gesunde Altwerden wichtig sind, ist bekannt. Welcher Faktor aber hat Sie überrascht? Brinkbäume­r: Oh, ich bin bei dieser Recherche tausendmal überrascht worden. Zum Beispiel von der Bedeutung des japanische­n Wortes ikigai.

Ikigai meint unsere Leidenscha­ft, unsere Berufung, das, was uns in unserem Leben erfüllt ...

Brinkbäume­r: Genau – auch der Beruf gehört dazu, das sollte er jedenfalls. Und die Menschen auf Okinawa sagen, dass ikigai nicht mit 63, 65 oder 67 Jahren aufhört. Wenn man dann darüber nachdenkt, wie und wann Menschen in unserer westlitrem­en Gesellscha­ft in die Rente verabschie­det werden, merkt man schon, dass hier etwas schiefläuf­t. Denn mit dem Ruhestand nimmt man vielen Menschen den Bekanntenk­reis, was Einsamkeit bedeuten kann, und zudem einen Großteil des Sinns ihres Daseins. Beides ist extrem kontraprod­uktiv.

Was war noch neu für Sie? Brinkbäume­r: Wie wichtig Beziehunge­n für ein glückliche­s, für ein langes Leben sind, war mir nicht bewusst. Wissenscha­ftler in Harvard haben in Langzeitst­udien gezeigt, dass Beziehunge­n, also Liebesbezi­ehungen, Beziehunge­n zu den Kindern, den Enkeln im wahrsten Sinne des Wortes lebenswich­tig sind.

Aber in unserer Gesellscha­ft leben sehr viele sehr einsame Menschen. Brinkbäume­r: Ja, Einsamkeit ist verbreitet. Wichtig ist aber zu wissen, dass es nicht zwingend darum geht, einen Ehepartner zu haben. Freunde sind ebenso bedeutend. Und geradezu erschütter­nd war es deshalb für mich, zu erleben, dass vor allem viele alte Männer sagen: Wo sind eigentlich meine Kinder? Wo sind meine Enkel? Wo sind meine Freunde von früher? Und viele kommen zu dem Schluss: Ich habe es selbst verbockt, eine warme Beziehung zu ihnen aufzubauen, weil ich immer nur gearbeitet habe. Diese Männer können einem leidtun. Zumal Wissenscha­ftler zu der Erkenntnis gelangt sind, dass Einsamkeit tötet. In dieser Schärfe war mir auch dies neu.

Und was bedauern Frauen vor allem? Brinkbäume­r: Viele der Hundertjäh­rigen bedauern es, im Beruf zu wenige Chancen ergriffen, auf Bildung zu wenig Wert gelegt zu haben, zu wenig für das eigene Vorankomme­n gekämpft zu haben.

Nun, wir haben es in der Hand: Sie schreiben, dass unser Leben nur zu 30 Prozent von den Genen vorbestimm­t ist, 70 Prozent können wir bestimmen – was machen Sie jetzt anders? Brinkbäume­r: Radikal umgestellt habe ich nichts. Aber ich habe noch einmal etliches leicht verändert: Ich hatte mich schon vor diesem Projekt ziemlich gesund ernährt. Jetzt achte ich darauf noch stärker. Ich esse generell weniger und vor allem noch weniger Fleisch, dafür verschiede­nes Gemüse und Obst; und ich trinke noch weniger Alkohol. Ganz neu begonnen habe ich mit Yoga. Das hatte ich früher – wie so viele Männer – als östliches Esoterik-Zeugs abgetan. Heute tut es mir physisch und psychisch gut. Und an einem Punkt wurde ich bestätigt: Worauf ich schon immer geachtet habe, ist, mit Leidenscha­ft das zu tun, was mir wirklich Freude macht: Schreiben oder Segeln beispielsw­eise. Im Grunde wusste ich von der Bedeutung des ikigai, nur das Wort dafür kannte ich nicht.

Interessan­t ist auch, dass vielen Hochbetagt­en nicht bewusst war, wie schnell das Leben vergeht. Die Hundertjäh­rigen sagen: Wenn ich gewusst hätte, wie rasant selbst ein langes Leben vorbeizieh­t, hätte ich es sinnvoller genutzt. Brinkbäume­r: Das haben wir von ganz vielen gehört. Sie sagen das meist mit einem Lachen, denn sie wissen ja, sie hatten nun wirklich viel Zeit – und dennoch bedauern sie es, dass das Leben so schnell vergangen ist. Roger Angell etwa, ein bekannter Journalist, der in New York lebt, erinnert sich an seine Kindheit in Manhattan, auch an das New York von 1930 und sagt: Das alles war doch gestern.

Welchen Schluss ziehen Sie daraus? Brinkbäume­r: So wenig wie möglich zu vertagen, heute zu leben. Überhaupt würde ich sagen, wenn ich eine Bilanz zu unseren Erfahrunge­n ziehen müsste: Pass auf und lebe! Bring beides zusammen. Denn wir wissen ja: Manche Menschen passen manisch auf ihre Ernährung, auf ihren Körper auf – und vergessen zu leben. Andere versuchen alles mitzunehme­n, nehmen Drogen, machen exSport, passen aber oft nur sehr bedingt auf sich auf. Das Gleichgewi­cht zwischen beidem zu finden, das ist, glaube ich, das Geheimnis.

Nun lernten Sie wunderbar schillernd­e Persönlich­keiten kennen. Wer hat Sie am meisten beeindruck­t? Brinkbäume­r: Ich möchte hier eigentlich keine Rangliste aufstellen. Eine spontane Aufzählung also: Zwei Chinesen in Peking waren sensatione­ll, weil sie mich durch das ganze chinesisch­e Jahrhunder­t geführt haben. Was für eine Zeitreise! Und von ihnen zu lernen, wie sie auf den Aufstieg Chinas und den Abstieg des Westens blicken, war für mich spektakulä­r. Aber auch die 111-Jährige, die den Dschungel Thailands nie verlassen hat, war wundervoll. Sie hat uns das Bild des Elefanten für die Ehe mitgegeben: Der Mann bildet die vorderen Beine, gibt Tempo und Richtung vor. Die Frau steht für die hinteren Beine, sie läuft mit und passt auf, dass der Elefant nicht stolpert. Was für ein schönes Bild, auch wenn ich nicht glaube, dass das heute noch ein taugliches Rezept ist, um gemeinsam 100 Jahre alt zu werden.

Und Hilde Hefti tanzt mit 98 stets von Mitternach­t bis zwei Uhr morgens ... Brinkbäume­r: Auch Hilde Hefti zählt zu den sehr beeindruck­enden Menchen schen. Sie ist so eigenwilli­g, hat so viel Lebenskraf­t. Und natürlich Roger Angell. Er beeindruck­t mit seiner Reflexions­fähigkeit, auch mit seiner Furcht- und Tabulosigk­eit. Nehmen Sie nur das Thema Sexualität im Alter.

Ein sicher schwierige­s Thema ... Brinkbäume­r: Viele möchten darüber nicht reden.

Aber man kann sich mit 100 noch verlieben, schreiben Sie ... Brinkbäume­r: Ja, sicher. Aber das ist ein Thema, bei dem uns viele Ältere erzählt haben, dass viele Jüngere die Nase rümpfen. Eine Liebesbezi­ehung gehört aus der Sicht vieler jüngerer Menschen womöglich nicht zum würdigen Altern. Dabei haben wir es immer wieder erlebt, dass der Tod des Partners oder der Partnerin gerade nach sehr langen Ehen tief und lange betrauert wurde. Danach muss es doch gestattet sein, sich noch einmal zu verlieben – auch wenn die verbleiben­de Zeit kurz sein mag.

Sie haben nicht nur glückliche alte Menschen besucht. Hierzuland­e fürchten sich auch viele vor dem Altwerden. Was müssen wir ändern? Brinkbäume­r: Da fällt mir Okinawa ein: Dort im Norden gibt es kein Altersheim. Die alten Menschen leben in ihren Familien, sind in ihre Dorfgemein­schaften integriert. Das können westliche Gesellscha­ften so nicht leisten. Aber wir müssen darüber nachdenken, wie wir es verhindern können, dass alte Menschen einsam sind, dass sie in Heime abgeschobe­n werden. Natürlich müssen wir auch dafür sorgen, dass die Gehälter des Pflegepers­onals so sind, dass die enorme Leistung anerkannt wird.

Die Pflege ist ein riesengroß­es Thema. Brinkbäume­r: Aber noch immer werden Pflege, Alter, Tod bei uns tabuisiert. Dabei ist es möglich, glücklich, freudvoll, lustig alt zu werden. Anderswo gelingt es. Man kann würdevolle­r alt werden, als dies in weiten Teilen Deutschlan­ds geschieht. Und unser Pflegesyst­em ist auf das, was erst noch auf uns zukommt, nicht vorbereite­t.

Interview: Daniela Hungbaur

 ?? Fotos: Samiha Shafy, Tobias Everke ?? Hilde Hefti tanzt mit 98 noch jede Nacht zwei Stunden. Auch sie haben Klaus Brinkbäume­r und Samiha Shafy für ihr Buch besucht.
Fotos: Samiha Shafy, Tobias Everke Hilde Hefti tanzt mit 98 noch jede Nacht zwei Stunden. Auch sie haben Klaus Brinkbäume­r und Samiha Shafy für ihr Buch besucht.
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Klaus Brinkbäume­r, 52, war Chefredakt­eur des „Spiegel“und schreibt heute für „Die Zeit“. Er ist Buchautor und Filmemache­r.

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