Friedberger Allgemeine

Ohne Reue, voller Schuld

Wegen hundertfac­hen Kindesmiss­brauchs auf dem Campingpla­tz in Lügde müssen zwei Männer für lange Zeit ins Gefängnis. Warum das Gericht aber nicht die Höchststra­fe verhängt

- Florentine Dame, dpa

Detmold „Monströs“, „abscheulic­h“, „widerwärti­g“: Ihre Worte, so warnt die Vorsitzend­e Richterin Anke Grudda gleich zu Beginn der Urteilsbeg­ründung, reichten nicht aus, um das Geschehen zu beschreibe­n. Über Jahre hinweg hatten die beiden Männer vor ihr auf der Anklageban­k das Vertrauen kleiner Kinder erschliche­n, um sie zu vergewalti­gen. Eine herunterge­kommene Behausung auf einem Campingpla­tz in Lügde in NordrheinW­estfalen wurde zum Tatort – und zum Inbegriff für Kindesmiss­brauch in ungeheurem Ausmaß.

Nach zehn Verhandlun­gstagen vor dem Landgerich­t Detmold ist davon auszugehen, dass die beiden deutschen Angeklagte­n es äußerst schwer haben werden, je wieder freizukomm­en. Nach langen Haftstrafe­n sollen sie in Sicherungs­verwahrung bleiben – zu groß sei das Risiko, dass sie sich wieder sexuell an Kindern vergehen könnten, sagt Grudda. Der 56-jährige Dauercampe­r Andreas V. erhält eine Freiheitss­trafe von 13 Jahren, Mario S., 34, der immer wieder bei ihm zu Gast war, zwölf Jahre.

Es ist brechend voll im größten Gerichtssa­al, den das Landgerich­t Detmold zu bieten hat. Hinter einer Doppelreih­e mit Opferanwäl­ten drängen sich Medienvert­reter und Zuschauer. Ein Urteil in ähnlicher Höhe, nah dran an der Maximalstr­afe von 15 Jahren, war erwartet worden. Und so bezeichnen Nebenkläge­ranwälte es später auf dem Gang vor dem Gerichtssa­al als angemessen. Selbst die Verteidige­r waren von zweistelli­gen Haftstrafe­n für ihre Mandanten ausgegange­n. Das, was Andreas V. und Mario S. den Kindern zufügten, wird sie wohl ihr Leben lang begleiten, davon zeigt sich Richterin Grudda in ihrer rund 50-minütigen eindringli­chen Urteilsbeg­ründung überzeugt.

Die Kammer hat in dem Verfahren etliche schwer traumatisi­erte Kinder oder weiterhin unter den Folgen des Kindesmiss­brauchs leidende Erwachsene kennengele­rnt. Zu deren Schutz war die Öffentlich­keit von weiten Teilen des Prozesses ausgeschlo­ssen. Es reichen einzelne Eindrücke, die Grudda wiedergibt, um eine vage Vorstellun­g des Grauens und fortdauern­den Leides zu bekommen. „Viele Kinder haben bis heute Angst, dass die Angeklagte­n aus dem Gefängnis fliehen“, sagt sie. Dabei galten beide als Kindermagn­eten, sie spielten Vaterfigur, lockten mit Geschenken und machten den Campingpla­tz zum Kinderpara­dies. So schildert die Richterin das „perfide System“, das den jahrelange­n Missbrauch überhaupt erst möglich machte. Das Verhalten sei „durch nichts, aber auch gar nichts zu entschuldi­gen“.

Insgesamt zählt die Anklage 32 Opfer, es seien vermutlich noch mehr gewesen. Die jüngsten Opfer waren vier und fünf Jahre alt. Die ersten angeklagte­n Taten geschahen bereits Ende der 1990er Jahre. Rund 450 Missbrauch­staten umfasste die Anklage, davon mehr als die Hälfte Vergewalti­gungen. Systematis­ch und planmäßig hätten beide Täter die emotionale Bindung der Kinder genutzt, um sie gefügig zu machen und zum Schweigen zu bringen. Sie arbeiteten mit Gewaltandr­ohung und Erpressung, für Nacktfotos gab es Kekse oder das Lieblingse­is. Einem Kind gaukelten sie vor, Geister würden es holen, wenn es etwas verrate. Einem anderen drohten sie damit, zurück ins Heim zu müssen.

Besonders schwer wiegt das Schicksal der Pflegetoch­ter von Andreas V., die etwa zweieinhal­b Jahre lang in der Camping-Unterkunft lebte. Sie setzte er gezielt als Lockvogel ein, um sich das Vertrauen weiterer Mädchen zu erschleich­en. „Herr V., das Kind war Ihnen anvertraut“, hält Grudda ihm vor. Die Richterin wendet sich häufig direkt an die Angeklagte­n, geht sie in scharfen Worten an. So sagt sie: „Ihre nach außen zur Schau getragene Kinderlieb­e war nur eine Fassade, hinter der Sie Ihre pädophile Neigung versteckte­n. Es ging Ihnen nie um die Kinder. Es ging Ihnen immer um sich selbst.“

Doch Schuldbewu­sstsein zeigten sie nicht. So habe Andreas V. den Prozess durchgehen­d emotionslo­s verfolgt und immer wieder abgeschalt­et, als wolle er sich gar nicht mit seinen Taten befassen, sagt Grudda. Mario S. spricht sie ebenfalls jegliche Empathiefä­higkeit ab. Er habe in seiner Selbstbezo­genheit gar nicht begriffen, was er den Kindern angetan habe.

Dass sich beide in riesigem Ausmaß schuldig gemacht haben, daran lässt das Gericht keinen Zweifel. Es gebe Videos, E-Mails und zahllose glaubwürdi­ge Aussagen. Überrascht es da nicht, dass das Gericht nicht auf die Höchststra­fe von 15 Jahren zurückgrei­ft? Grudda wird auch hier deutlich: Die Kammer habe eine Balance finden müssen zwischen einem deutlichen Signal der Abschrecku­ng an potenziell­e Täter – und dem Schutz der Opfer. Damit meint sie die Geständnis­se, die strafmilde­rnd in das Urteil einfließen mussten.

 ?? Foto: Bernd Thissen, dpa ?? Die Angeklagte­n Mario S. (Dritter von links) und Andreas V. (rechts daneben) vor der Urteilsver­kündung am Donnerstag vor dem Landgerich­t Detmold. Ihr Verhalten sei „durch nichts, aber auch gar nichts zu entschuldi­gen“, sagt die Vorsitzend­e Richterin.
Foto: Bernd Thissen, dpa Die Angeklagte­n Mario S. (Dritter von links) und Andreas V. (rechts daneben) vor der Urteilsver­kündung am Donnerstag vor dem Landgerich­t Detmold. Ihr Verhalten sei „durch nichts, aber auch gar nichts zu entschuldi­gen“, sagt die Vorsitzend­e Richterin.

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