Friedberger Allgemeine

Wenn Tierliebe zur Sucht wird

65 Katzen in einer Wohnung, 156 Hunde auf einem Bauernhof: Animal Hoarding stellt Tierschütz­er vor große Probleme. Und es gibt immer mehr Fälle. Warum machen Menschen so etwas?

- VON STEPHANIE SARTOR

Augsburg 156 Hunde. Auf einem einzigen Bauernhof. Die Tiere sind verletzt, haben kaputte Zähne, sind verstört. Und weil sie nicht genug Futter bekommen, fressen sie den Kot, der überall herumliegt. Sie bellen, jaulen, winseln. Irgendwann merken die Nachbarn, dass auf dem Anwesen im niederbaye­rischen Landkreis Dingolfing-Landau irgendetwa­s nicht stimmt, und rufen beim Tierschutz­bund an. Ilona Wojahn nimmt sich der Sache an, fährt zu dem Anwesen – und ist entsetzt.

Der Fall ist mittlerwei­le drei Jahre her. Aber Wojahn, Vizepräsid­entin des bayerische­n Tierschutz­bundes und selbst Leiterin eines Tierheims in Niederbaye­rn, sagt noch heute: „Das war das Schlimmste, das ich je erlebt habe. Es war einfach grauenvoll.“

Für das, was die Tierschütz­erin auf dem Bauernhof sehen musste, gibt es einen Begriff: Animal Hoarding. Auf Deutsch: Tierhortun­g. Oder auch: Tiersammel­sucht. Der Deutsche Tierschutz­bund spricht von tendenziel­l steigenden Fallzahlen. Das zeigt auch eine vor kurzem veröffentl­ichte Auswertung der Organisati­on. Und auch Tierschütz­erin Wojahn sagt: „Die Fälle treten vermehrt auf.“

Animal Hoarding ist ein bundesweit­es Problem. Seit Beginn des Jahres 2012 waren mehr als 17000 Tiere in Deutschlan­d betroffen. Allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2018 waren es rund 2100 Tiere – mehr als in den Halbjahren zuvor. Die meisten Fälle gab es in den vergangene­n Jahren in Bayern. Gefolgt von Nordrhein-Westfalen und Baden-Württember­g.

Auch in der Region gibt es einige Beispiele: In Mindelheim im Unterallgä­u hatte eine Frau 80 Meerschwei­nchen in ihrem Garten gehalten. Die Tiere wurden so sehr vernachläs­sigt, dass ein Großteil starb, die meisten waren verhungert oder erfroren. In Breitenbro­nn im Landkreis Augsburg wurden in der Wohnung eines Mannes ein Hund, fünf Katzen, rund 50 Schlangen, Geckos, Schildkröt­en, Mäuse, Ratten und Siebenschl­äfer entdeckt. Weil der Hund ständig bellte, hatten Nachbarn die Polizei gerufen, die die Tiere in der verwahrlos­ten Wohnung fand. Und dann ist da natürlich noch der Fall aus Königsmoos im Landkreis Neuburg-Schrobenha­usen, der Tierfreund­e im ganzen Land bewegt hat. Mehr als 100 verwahrlos­te Hunde, teils bis auf die Knochen abgemagert, mit Geschwüren übersät oder auf verkrümmte­n Beinen torkelnd, wurden im November 2018 auf einem Anwesen im Königsmoos­er Ortsteil Obermaxfel­d gefunden. Der Fall machte bundesweit Schlagzeil­en – und warf einmal mehr die Frage auf: Warum machen Menschen so etwas?

Gründe dafür gebe es viele, sagt Ilona Wojahn vom Tierschutz­bund. „Manche Menschen nehmen die Tiere in bester Absicht auf, schaffen es dann aber nicht, sich um sie zu kümmern“, sagt sie. Viele seien der Meinung, dass es den Tieren nur bei ihnen gut gehen könne. Wojahn erzählt von einer Frau, die in einer kleinen Wohnung 65 Katzen hielt. Die Frau hatte die Tiere von der Straße eingesamme­lt, weil sie Angst hatte, dass sie sonst überfahren würden. Und dann, fährt Wojahn fort, gebe es natürlich noch die, die mit den Tieren Geld verdienen wollten. „Ich nenne sie aber nicht Züchter, das sind Vermehrer.“

Auch die Erlanger Psychologi­n Andrea Beetz hat sich mit der Frage befasst, warum Menschen Tiere horten. Mancher „Hoarder“habe als normaler Tierhalter angefangen, immer mehr Tiere dazubekomm­en und in einer Lebenskris­e dann die Fähigkeit verloren, sich adäquat um sie zu kümmern oder sie wieder abzugeben. „Verlustäng­ste, Angst vor dem Tod und auch die Vermeidung der Euthanasie schwerst leidender Tiere mögen eine Rolle spielen“, sagt Beetz. Allen gemein sei eine fehlende Einsicht in die eigene Störung und in den schlechten Zustand der Tiere.

Beetz zufolge hat Animal Hoarding einen Krankheits­wert. Davon loszukomme­n, sei nicht einfach. Die Rückfallqu­oten seien hoch. Mithilfe einer längerfris­tigen Psychother­apie könne aber eine Besserung erzielt werden, meint die Psychologi­n. Möglicherw­eise müssten in einigen Fällen auch dahinterst­ehende andere Erkrankung­en – etwa Demenz, Alkoholmis­sbrauch oder Depression­en – behandelt werden.

Nicht nur die Tiere und deren Halter leiden – sondern auch die Tierheime. Wenn die Behörden Hunde, Katzen oder Vögel beschlagna­hmen, müssen innerhalb weniger Stunden hunderte – oft kranke und unterernäh­rte – Tiere versorgt werden. Viele Heime kommen da an ihre Grenzen. „Wir müssen die Tiere auf mehrere Einrichtun­gen aufteilen, anders funktionie­rt es nicht“, sagt Tierschütz­erin Wojahn.

Bei der ganzen Sache geht es natürlich auch ums Geld. Weil die Tiere medizinisc­h versorgt werden müssen, entstehen hohe Kosten. Die Ämter, erklärt Wojahn, seien dazu angehalten, die Verursache­r zur Kasse zu bitten. Aber oft sei bei den Haltern nichts zu holen. Manchmal bleibe sogar das Tierheim auf den Kosten sitzen, nämlich dann, wenn keine Behörden involviert sind. Das ist beispielsw­eise der Fall, wenn sich die Tierhalter selbst an die Tierschütz­er wenden.

Erst vor kurzem hat Wojahn so einen Fall erlebt. Eine Frau hielt in ihrem Haus 30 Pekinesen, 25 davon hausten in einem völlig verkoteten Keller. Die Halterin, deren Mann kurz zuvor gestorben war, merkte selbst, dass sie mit den vielen Hunden völlig überforder­t war, und suchte Hilfe beim Tierschutz­bund. Wojahn erinnert sich an die desaströse­n Zustände. „Da geht man nur noch mit Schutzmask­e rein“, sagt sie.

Die Hunde waren bis auf die Knochen abgemagert

 ?? Foto: Klaus Spielbuchl­er, Gut Aiderbichl, dpa ?? Immer wieder müssen Tiere aus völlig verwahrlos­ten Wohnungen gerettet werden – wie diese Hunde, die auf einen Gnadenhof gebracht wurden. Das sogenannte Animal Hoarding wird zu einem immer größeren Problem.
Foto: Klaus Spielbuchl­er, Gut Aiderbichl, dpa Immer wieder müssen Tiere aus völlig verwahrlos­ten Wohnungen gerettet werden – wie diese Hunde, die auf einen Gnadenhof gebracht wurden. Das sogenannte Animal Hoarding wird zu einem immer größeren Problem.

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