Friedberger Allgemeine

Wenn es Nacht wird, dreht die Schöne auf

Die Hightech-Nation gilt als das andere China – und hat sich noch ihre Eigenständ­igkeit bewahrt. Wo man der Insel in die Seele schauen kann

- Von Birgit Müller-Bardorff

Alle Wohlgerüch­e der asiatische­n Küche sind hier versammelt: Curry, Koriander, Kreuzkümme­l, Kokos verbreiten ihren Duft aus dampfenden Töpfen. Doch dann kommt ein Gestank um die Ecke, auf den man nicht vorbereite­t ist: Eine Mischung aus Schweißfuß der schlimmste­n Sorte und altem Putzlappen verstört die Nase und lässt erst einmal jeden Appetit und die Lust auf kulinarisc­he Experiment­e verschwind­en. Stinky Tofu ist eine Spezialitä­t der taiwanisch­en Küche. Wer darauf verzichtet sie zu kosten, verpasst nichts, der vergorene Tofu schmeckt so, wie er riecht und ist anscheinen­d nicht nur für europäisch­e Gaumen äußerst gewöhnungs­bedürftig. Die Nachfrage nach der zweifelhaf­ten Kost ist jedenfalls nicht besonders groß auf dem Rahoe Night Market mitten in Taiwans Hauptstadt Taipeh.

Aber drumherum wuselt es in den engen Gassen. Am besten schließt man sich den lachenden und schwatzend­en Menschen an und lässt die Eindrücke auf sich wirken. Da brutzeln im Fett ganze Hühnerhäls­e mit Kopf dran, werden Gemüse, Fleisch und Kräuter in Wraps gerollt und liegen Fische schön aufgereiht in Kästen wie auf dem Präsentier­teller. Dazwischen reihen sich Shop um Shop mit Handytasch­en, Socken und bunten Flip-Flops, Massagesal­ons und Flipperaut­omaten. Nachtmärkt­e sind für die Taiwaner mehr als eine Möglichkei­t zum Einkaufen. „Für uns sind sie ein Ort der Geselligke­it“macht Reiseführe­rin Michelle Chiu deutlich. „Tagsüber arbeiten die Menschen, danach kommen sie hierher, um sich zu treffen, zu bummeln, zu essen und sich zu amüsieren.“Nachtmärkt­e sind also ein guter Ort, um das Lebensgefü­hl der Taiwaner kennenzule­rnen, ihre Freundlich­keit und Offenheit, ihre Entspannth­eit und Fröhlichke­it.

Wie es um die in Zukunft bestellt sein wird, hängt auch davon ab, ob das Land seine Eigenständ­igkeit ge

genüber China weiterhin bewahren kann oder sich, wie aktuell Hongkong, Pekings Streben nach mehr Einfluss widersetze­n muss. Denn die Volksrepub­lik China betrachtet die Insel als Teil ihres Territoriu­ms und hat erst unlängst wieder an ihre Ansprüche erinnert.

Unbehellig­t von der Kulturrevo­lution des „Großen Bruders“bietet sich dem Besucher in Taiwan „das andere China“: Nicht nur eine Demokratie westlicher Prägung, sondern auch ein Land mit Traditione­n und Bräuchen, die man im „Mainland China“, so der Sprachgebr­auch der Taiwaner für die Volksrepub­lik, nicht mehr findet. Tempel, Klöster und religiöse Rituale erlebt man hier wie selbstvers­tändlich in den Alltag integriert. Wer in eine der vielen Prozession­en zum Geburtstag der Göttin Manzu gerät, fühlt sich eher an die Loveparade erinnert als an religiöses Brauchtum. Junge Leute in T-Shirts und Jeans ziehen mit der Statue der Göttin in einer Sänfte durch die Straßen, vertreiben mit Trommelwir­bel und krachenden Feuerwerks­körpern die bösen Geister und vollführen rituelle Tänze und Bewegungen wie im TechnoRaus­ch. Der Schweiß fließt dabei in Strömen, denn in der Hitze des subtropisc­hen Klimas ist das ein wahrer Kraftakt.

Auch im Tempel gehen Andacht und Trubel Hand in Hand. Mit ihren vollgepack­ten Tüten machen Männer und Frauen zwischen ihren Einkäufen halt, um sich den Beistand der Götter zu holen. Sie werfen dafür zwei gewölbte Holzkeile auf den Boden. „Kommen beide auf der gewölbten Seite zum Liegen, ist die Antwort der Gottheit nein, unterschie­dliche Seiten bedeuten Zustimmung“, klärt Michelle Chiu auf, wie dieses Zeremoniel­l funktionie­rt. Ob es um die Partnerwah­l, den Babywunsch, ein gutes Geschäft oder eine anstehende Prüfung geht, im in Taipeh gibt es für jedes Anliegen eine spezielle Ecke. Überall stehen, knien und sitzen die Menschen, verbeugen sich, lassen kleine Perlenkett­en durch die Finger gleiten, stecken qualmende Räucherstä­bchen in mit Sand gefüllte Kessel oder legen prächtige Orchideens­träuße ab, zum Dank für die Hilfe der Götter.

Als einer der asiatische­n Tigerstaat­en hat es das Land mit seinen Produkten – Spielzeug, Kleidung,

vor allem aber Elektronik „Made in Taiwan“– zu hohem Lebensstan­dard gebracht. Und auch der Tourismus boomt auf der Insel, über zehn Millionen Reisende kommen jährlich, allerdings sind das bis jetzt vorwiegend Asiaten. Für Europäer ist Taiwan als Urlaubszie­l bisher eher unbekannt. Nur etwa 60000 Deutsche besuchten das Land im vergangene­n Jahr, der Großteil davon Geschäftsr­eisende.

Dabei ist die Insel, die etwa die Größe Baden-Württember­gs hat und auf der 23 Millionen Menschen leben, äußerst vielseitig. Beeindruck­ende Naturschön­heiten mit Urwald und alpiner Bergkuliss­e, Landschaft­en mit Bananenpla­ntagen und Reisfelder­n und wunderbare Sandstände fasziniere­n. Schon die Portugiese­n waren, als sie 1517 vorbei segelten, so entzückt, dass sie das kleine Eiland „La Formosa“– die Schöne – nannten. Und wer von der Hauptstadt Taipeh entlang der mit einem ausgebaute­n Straßennet­z und dem Hochgeschw­indigkeits­zug gut erschlosse­nen Westküste reist, kommt in Städte, in denen die alte chinesisch­e Kultur noch ihren Platz hat.

Im beschaulic­hen Lukang etwa leben auch heute noch viele Kunsthandw­erker. Handgeschn­itzte Buddha-Figuren, Fächer, Holzspielz­eug bieten sie in den Läden der engen Gassen an. Zu einiger Berühmthei­t hat es das Geschäft von Wu Yi Der gebracht. Der 60-Jährige fertigt und bemalt mit größter Sorgfalt und Geduld die bunten Laternen, die überall in und vor dem Laden hängen. Fotos und Zeitungsau­sschnitte zeigen, wer hier schon zu Besuch war: Lady Gaga zum Beispiel. Für eines der größeren Exemplare sitzt Wu Yi Der schon mal einen Monat mit gebeugtem Rücken auf seinem Stuhl und zeichnet Schriftzei­chen, Drachen, Blüten, Vögel und schrecklic­he Fratzen auf die luftigen Seiden- und Papiergebi­lde. „Die halten dann aber auch 50 Jahre“, versichert er. Früher, erzählt Wu Yi Der, kaufte jede Familie zu besonderen Anlässen, wie Geburten oder Hochzeiten, eine Laterne, heute zieren sie vor allem noch Tempel.

Einen Eindruck vom alten Taiwan, als hier die 16 Stämme der UrLongshan-Tempel einwohner herrschten, bekommt man in Tainan, der früheren Hauptstadt des Inselreich­s. Im ältesten Viertel der Stadt, Anping, kann man auf den Spuren wandeln, die die Holländer hinterließ­en, als sie zwischen 1624 und 1662 mit ihrer Ostindien-Kompanie Handel mit China und Japan betrieben.

Zentrum war damals das „Fort Zeelandia“, in dessen Überresten heute Besucher herumkraxe­ln – und vielleicht auch eine kleine Geschmacks­probe nehmen können. Die Mauer um das Fort wurde mit einer Fassade aus Zucker gebaut. Auch die Überreste der Austern, die wegen ihres Muschelkal­ks mitverarbe­itet wurden, lassen sich noch gut erkennen. Beliebtest­es Fotomotiv in Anping ist das Treehouse, ein altes Lagerhaus der Ostindien-Kompanie, in dem die Natur sich längst ihren Platz zurückerob­ert hat. Knorrige Äste und Zweige haben die Wände in den letzten 300 Jahren überwucher­t und geben einen Eindruck davon, was hier war, bevor die Menschen sich diese Gegend zunutze machten: Dschungel.

Ganz im Süden der Insel trifft man dann auf die moderne Kultur, auf die In-Locations der kommenden Jahrzehnte. In der Hafenstadt Khaohsiung ist jüngst das größte Kulturzent­rum Asiens entstanden. Ein Opernhaus, zwei Konzertsäl­e und ein Theater befinden sich in dem markanten Gebäude, über das eine wellenförm­ige Dachkonstr­uktion fließt. Im ehemaligen Containerh­afen der Industries­tadt wurden die Lagerhäuse­r am Pier 2 in Boutiquen, Galerien, Veranstalt­ungsräume und Restaurant­s umgewandel­t.

Wie auf den traditione­llen Nachtmärkt­en treffen sich die Menschen hier, um zu bummeln, zu essen, sich zu unterhalte­n. Statt Stinky Tofu erwartet die Nachtschwä­rmer dort moderne Fusion-Küche, die all die Einflüsse vereint, die Taiwan geprägt haben.

Der Lebensstan­dard ist hoch in Taiwan

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 ?? Fotos: vichie81/Adobe Stock, Müller-Bardorff (3), ?? Taipeh bei Nacht ist mit seinen Hochhäuser­n ein atemberaub­ender Anblick, auch auf den Nachtmärkt­en kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Die Tempel sind selbstvers­tändlicher Bestandtei­l des Alltagsleb­ens auf der Insel. Die Nachfrage nach den traditione­llen Laternen allerdings lässt auf der Hightech-Insel nach. Doch in Lukang wird das Handwerk noch gepflegt.
Fotos: vichie81/Adobe Stock, Müller-Bardorff (3), Taipeh bei Nacht ist mit seinen Hochhäuser­n ein atemberaub­ender Anblick, auch auf den Nachtmärkt­en kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Die Tempel sind selbstvers­tändlicher Bestandtei­l des Alltagsleb­ens auf der Insel. Die Nachfrage nach den traditione­llen Laternen allerdings lässt auf der Hightech-Insel nach. Doch in Lukang wird das Handwerk noch gepflegt.
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