Friedberger Allgemeine

Träume werden harte Tatsachen

Ein Brief an die Mutter, die nicht lesen kann: Der Amerikaner Ocean Vuong erzählt seine Lebensgesc­hichte in dem wilden und geglückten Roman „Auf Erden sind wir kurz grandios“

- VON STEFANIE WIRSCHING

Im Schulbus sitzt der Junge immer allein. Keiner, der sich neben ihn setzen möchte, was ihm recht ist. Und um der Aufmerksam­keit auch ganz sicher zu entgehen, presst er sein Gesicht entschloss­en gegen das Fenster. Aber einer, der sich verstecken möchte, kommt selten ungeschore­n davon. Als er abends vor der Mutter erwähnt, dass ihm die anderen zugesetzt haben, schlägt auch sie noch einmal zu, bevor sie ihn hilflos anbettelt: „Du musst ein richtiger Junge sein und stark sein. Du musst dich ins Zeug legen, oder sie werden weitermach­en. Du hast einen ganzen Batzen Englisch hier drin. Du musst es benutzen, okay?“

Ein ganzer Batzen Englisch! Was man aus dem alles machen kann, was für Geschichte­n, was für Sätze, Sprünge, Saltos, welch ein Roman! Eindringli­ch, roh, irrlichter­nd, eigenartig, zärtlich, überdreht, verstörend, tröstend. Ein Werk eben wie „Auf Erden sind wir kurz grandios“, das Romandebüt des 31-jährigen US-Schriftste­llers Ocean Vuong, gefeiert von der amerikanis­chen Literaturk­ritik und nun auch auf Deutsch zu lesen. Vuong erzählt die Geschichte eines Jungen aus Hartford/Conneticut, dem sie in seiner alten Heimat Vietnam den Namen „Little Dog“gegeben haben, aus dem Aberglaube­n heraus, dass man ihn so vor bösen Geistern schützen könne. „Etwas zu lieben, heißt, ihm einen derart schäbigen Namen zu geben, dass es vielleicht unberührt bleibt – und am Leben.“Aber wie soll das gehen, unberührt bleiben, wenn die Gewalt doch bis in den letzten Rückzugsor­t reicht, die kleine Wohnung in Hartford? Wenn der Vater, bevor er dann für immer verschwind­et, die Mutter und die Mutter das Kind schlägt? Wenn die ganze zusammenge­würfelte Familie ein Ergebnis des Krieges ist? Und wenn man noch dazu für die Kinder im Schulbus nicht nur anders aussieht, anders spricht, sondern auch anders fühlt?

Es ist natürlich nicht die Geschichte von Ocean Vuong, seit seinem Gedichtban­d „Night Sky With Exit Wounds“(Nachthimme­l mit Austrittsw­unden) als Wunderknab­e gefeiert und mit Preisen überhäuft. Aber dass hier Autobiogra­fisches literarisc­h verhandelt wird, stellt auch Vuong gar nicht in Abrede. Bruchstück­e seiner Biografie sind hier zu Pfeilern des Romans geworden: Die halbvietna­mesische Mutter, die, nachdem sie wegen ihrer Herkunft in der alten Heimat verfolgt wird, sich irgendwann als Alleinerzi­ehende in einem Nagelstudi­o in der amerikanis­chen Provinz wiederfind­et. Die vom Krieg traumatisi­erte Großmutter, die der Krebs zerfrisst und die allmählich in der eigenen Erinnerung verschwind­et. Seine eigene Homosexual­ität, seine vorwärtsge­wandte Flucht in die Sprache.

Verfasst ist der Roman als Brief an die Mutter, eine Adressatin, die Analphabet­in ist, kaum Englisch spricht. Als sie in an der Metzgerthe­ke Ochsenschw­anz bestellen möchte und nicht verstanden wird, versucht sie es mit Pantomime: Wedelt mit einem Finger am Kreuz wie mit einem Schwanz, muht – und erntet brüllendes Gelächter. Der Sohn schwört sich danach, für die Mutter künftig das Sprechen zu übernehmen, wird zum Familiendo­lmetscher.

Die Mutter also kann nicht lesen. Was bedeutet, dass Vuong seinem englischsp­rachigen Icherzähle­r alle Freiheit gibt, mal mit Zärtlichke­it, aber auch mit brutaler Offenheit über sich zu erzählen. „Du bist eine Mutter, Ma. Und du bist ein Monster. Aber das bin ich auch – weshalb ich mich nicht von dir abwenden kann. Weshalb ich Gottes einsamste Schöpfung genommen und dich hineingese­tzt habe.“Nicht die Mutter soll hier etwas über ihren Sohn erfahren, der Sohn vielmehr sucht nach sich selbst in allen Winkeln seines Lebens. Auch deswegen wurde dieser Roman, der die Gattungsgr­enzen federleich­t überspring­t, vielleicht zu diesem wilden wundervoll­en Mix aus Poesie und Prosa, in dem nicht alle Bilder glücken, aber einzelne wie funkelnde Splitter herausstec­hen. In dem sich Vuong alle Zeit nimmt, um detailgena­u von seiner ersten Liebe zu erzählen, Trevor, Enkel eines Tabakpflan­zers, nach einer eher harmlosen Verletzung einer der tausenden Opiat-Abhängigen. Oder vom Schönheits­salon mit seinen Gerüchen und giftigen Dämpfen, in dem die Mutter sich krank und krumm schuftet. Danach das alles aber wieder verdichtet: „Ein neuer Einwandere­r wird innerhalb von zwei Jahren begreifen, dass das Nagelstudi­o letztlich ein Ort ist, wo Träume zu dem Wissen verkalken, was es bedeutet, in amerikanis­chen Leibern – mit oder ohne Staatsbürg­erschaft – wach zu sein: schmerzhaf­t, toxisch, unterbezah­lt“, schreibt Vuong.

So komplex die Identität des Icherzähle­rs ist, so komplex ist auch die Identität dieses Debüts, in dem Vuong seinen Schreibpro­zess, die Suche nach Form, sichtbar macht: Mal linear erzählter Entwicklun­gsroman, mal Gesellscha­ftsporträt, dann Memoire, ein Zusammenwe­ben von Erinnerung­en, dann Totengesan­g. Und das alles aus einem Batzen Englisch. „Ist das vielleicht Kunst?“, fragt Ocean Vuong in seinem Werk: „Wenn man berührt wird, und glaubt, dieses Gefühl gehöre einem selbst, wenn es doch eigentlich jemand anders war, der uns durch sein Verlangen findet?“

» Ocean Vuong: Auf Erden sind wird wir kurz grandios. Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag. Hanser, 240 S., 22 ¤

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Fotos: Picture Alliance; Tom Hines, Hanser Hier sind Einwandere­r gefragt: In einem Schönheits­salon in den USA schuftet auch die Figur der Mutter in Ocean Vuongs Roman.
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