Was plant Boris Johnson?
Unter Tumult geht das britische Parlament in die Zwangspause. In London wird bereits über einen Last-Minute-Deal mit der EU spekuliert
London Es ist kurz nach halb zwei am Dienstagmorgen, als die Vertreterin von Königin Elizabeth II., gefolgt von vielen konservativen Parlamentariern und begleitet von „Shame on you“-Rufen („Schande über euch“) aus den Oppositionsreihen, wieder aus dem Unterhaus schreitet. Im schwarzen Gewand, den Ebenholzstab mit dem vergoldeten Löwen über die Schulter gelegt, führt Sarah Clarke die Abgeordneten hinüber ins Oberhaus, wo schlussendlich vor fast leeren Sitzreihen die sogenannte Prorogation verkündet wird, die Zwangspause des Parlaments.
Manche meinen, mit der Karawane verlässt auch die parlamentarische Demokratie die Kammer. Es ist eine denkwürdige Nacht im Königreich, die noch lange in Erinnerung bleiben wird. Abgeordnete der Opposition boykottieren aus Protest die Zeremonie. Einige wollen gar den Speaker, John Bercow, davon abhalten, sich zu erheben und Clarke zu folgen, wie es das Protokoll verlangt.
Es kommt zu tumultartigen Szenen. Es handele sich um „einen Akt exekutiver Ermächtigung“, sagte ein sichtlich verärgerter Bercow und verweist darauf, dass die Zwangspause gegen den Willen der meisten Parlamentarier stattfinde. Noch dazu in Krisenzeiten wie den jetzigen. Der umstrittene Sprecher, der auch in dieser Nacht den Zorn der europaskeptischen Hardliner auf sich zog, hatte tags zuvor seinen Rücktritt angekündigt.
Die Opposition befindet sich in offener Revolte, selbst einige Konservative rebellierten gegen den ungewöhnlichen Schritt von Premierminister Boris Johnson. Nur tun sie das seit gestern Morgen nicht mehr von den abgewetzten grünen Bänken im Westminster-Palast aus. Erst am 14. Oktober kehren sie zurück, kurz vor dem EU-Gipfel, bei dem Regierungschef Johnson einen neuen Deal mit Brüssel vereinbaren will. Gelingt ihm die Ratifizierung eines Deals nicht bis zum 19. Oktober, muss er laut dem „No-NoDeal-Gesetz“, das am Montag in Kraft getreten ist, um eine Verlängerung der Scheidungsfrist bitten. Stichtag ist der 31. Oktober. Doch trotz des Gesetzes, mit dem Johnsons Gegner einen ungeordneten Brexit zunächst verhindert haben, besteht der Premier auf sein Versprechen, er werde keinesfalls einen Aufschub des Termins beantragen.
Eigentlich fordert Johnson Neuwahlen. Doch wie bereits in der vergangenen Woche scheiterte er am Montagabend abermals mit seinem Antrag. Damit erlitt der Premier seit seinem Amtsantritt bereits die sechste Niederlage – in sechs Abstimmungen. Welche Strategie verfolgt Downing Street? Wird der Premier wirklich das Gesetz ignorieren und ein Schlupfloch finden, um das Land ohne Abkommen aus der EU zu führen? Seine Kritiker drohen damit, den Streit dann vor Gericht auszufechten. Oder aber Johnson tritt zurück. Wer aber im Anschluss – die Konservativen haben ihre Mehrheit im Unterhaus eingebüßt – eine Regierung bilden könnte, ist fraglich. Der altlinke Labour-Chef Jeremy Corbyn ist umstritten, nicht nur wegen seiner unklaren Brexit-Position.
Johnson dürfte mit solch einem Schritt auf Neuwahlen hoffen. Es ist ein riskanter Zug. Der nächstliegende Weg aus der Sackgasse wäre vielmehr eine Einigung mit der EU. Hinter den Kulissen wird bereits gemunkelt, Johnson könnte das von seiner Vorgängerin Theresa May ausgehandelte Abkommen leicht abändern, um es dann dem Parlament abermals vorzulegen. So wird spekuliert, dass er den umstrittenen Backstop, die Garantieklausel für eine offene Grenze auf der irischen Insel, auf Nordirland beschränken würde. Die Folge: Nicht zwischen der Republik Irland und der Provinz würden Warenkontrollen stattfinden, sondern im Notfall zwischen Nordirland und Großbritannien.
Es würde sich damit genau um jenen Vorschlag handeln, den die EU zunächst favorisiert hatte. Theresa May hatte ihn aufgrund der Empörung der Hardliner in den konservativen Reihen zurückgewiesen und stattdessen auf einen UK-weiten Backstop bestanden.