Friedberger Allgemeine

„Ich bin oft auf die Schnauze gefallen“

Er kam aus der Tiefe des Raumes – und wird am Samstag 75 Jahre alt: Günter Netzer. Der Ex-Nationalsp­ieler erinnert sich an seine Dispute mit Trainern, die Arbeit als TV-Experte und sagt, wie ihm die Arbeit in einer Disco geholfen hat

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Herr Netzer, wie ist das Befinden vor Ihrem Ehrentag?

Günter Netzer: Mir geht es wunderbar. Ab und zu klopfe ich auf mein Hirn – es soll nicht besser werden. Es rieselt zwar überall der Kalk. Jeden Tag tut mir etwas Anderes weh. Es gab auch ein paar Operatione­n, ohne dass ich daran zerbrochen bin. Ich bin demütig, dankbar und privilegie­rt.

Das Leben hat es gut mit Ihnen gemeint?

Netzer: Aber man muss auch etwas dafür tun. Ich hatte nicht von A bis Z Glück. Aber: Wir sind Glückskind­er. Franz Beckenbaue­r sagt dasselbe. Wir sind auf der Sonnenseit­e geboren. Ohne die notwendige Arbeit geht das geschenkte Glück jedoch zugrunde.

Denken Sie in dieser Lebensphas­e an unbedingt noch zu erledigend­e Dinge? Netzer: Nicht weil ich die Augen vor dem 75. verschließ­e – er ist aber kein Anlass, ab jetzt zu denken: Geht es zu Ende? Wann geht es zu Ende? Rückblicke zu halten. All diese Dinge existieren nicht. Die Leute sagen: Der ruht zu sehr in sich.

Trifft das zu?

Netzer: Richtig beobachtet, ein wunderschö­nes Kompliment. Es gibt keinen neuen Lebensentw­urf, keinen Handlungsb­edarf, irgendetwa­s unbedingt noch erleben zu müssen.

Manches Kapitel haben Sie vom Zeitpunkt her überrasche­nd beendet, so zum Beispiel das ARD-Zusammensp­iel mit Gerhard Delling ...

Netzer: Obwohl wir schon neun Jahre nicht mehr auf Sendung sind, sagen Leute: Schade, dass Sie aufgehört haben. Das ist doch viel besser, als: Mensch, das ist ja nicht mehr zu ertragen. Sicher habe ich zu einer anderen Fußballspr­ache im Fernsehen beigetrage­n. Aber ich bin selbst mein größter Kritiker. Neu erfinden konnte ich den Fußball auch nicht. Und ich war nicht bereit, für die Öffentlich­keit einen anderen Sprachscha­tz zu wählen, plakativer, dramatisch oder Effekthasc­herei zu betreiben. Mit dem Fußballspi­elen habe ich mit 32 Schluss gemacht. Beim HSV wollte ich nach sechs Jahren als Manager aufhören. Weil kein anderer da war, bis Felix Magath Nachfolger werden sollte, bin ich noch zwei Jahre geblieben. Raus wollte ich früher. Der Fußball hatte all meine Energien abgesaugt. Man würde mich in diesem Fußballges­chäft als Manager oder Vorstandsv­orsitzende­r nicht mehr sehen.

Wäre Trainer etwas für Sie gewesen? Netzer: Um Gottes Willen! In meinem Leben habe ich immer gewusst, was ich kann. Aber vor allem gewusst, was ich nicht kann.

Wie erklären Sie Ihre anhaltende Popularitä­t?

Netzer: Nur mit dem Gesamtbild, ausgehend vom Fußballspi­eler über den Manager und Medienmann bis zum Unternehme­r. Für einen Fußballspi­eler sicherlich außergewöh­nlich. Im Fernsehen hatten wir etwa die Fähigkeit, auch andere Kreise für Fußball zu interessie­ren. Beispielsw­eise haben Frauen uns gemocht. Nicht, weil wir besonders schön aussahen, sondern weil sie das verstanden, mitreden konnten. Und nach den Dingen, die ein Leben lang mein Job waren, wurde ich in der völlig anderen Aufgabe als Unternehme­r ebenfalls erfolgreic­h.

Schon als Fußballsta­r waren Sie Unternehme­r.

Netzer: Bei Länderspie­len hörte ich, was die Bayern und andere verdienten – das Drei- oder Vierfache. Also habe ich unserem Manager Helmut Grashoff vorgeschla­gen, mein Geld auch mit anderen Dingen zu machen: mit Stadionzei­tung, Werbeverla­g, Versicheru­ngsagentur. Und Disco. Kurz vor der Eröffnung habe ich Trainer Weisweiler informiert und eingeladen. Seine Worte: Das ist das Ende. Weil er dachte, ich würde nächtelang am Tresen sitzen, flaschenwe­ise Whiskey und Wodka trinken. Aber von da an hatte ich meine beste Zeit, war zweimal „Fußballer des Jahres“, ging zu Real Madrid, wir wurden Europameis­ter. Die Diskothek hat eher geholfen, als geschadet.

Hennes Weisweiler kam nicht in die Disco, aber der ehemalige Bundestrai­ner Sepp Herberger.

Netzer: Ich hatte gesagt: Elf Freunde müsst ihr sein – dieser Kokolores ist vorbei. Nach einem Spielbesuc­h in Mönchengla­dbach wollte er hören, wie ich diese Aussage erkläre. Ein imponieren­der Fußballphi­losoph mit ganz knappen Formulieru­ngen und Thesen, die heute noch gültig sind. Etwas ganz Großes.

Und Hennes Weisweiler?

Netzer: Ein grandioser Trainer. Weisweiler hat mich gemacht. WeisErklär­te weiler hat Mönchengla­dbach gemacht. Er hat mir Freiheiten gegeben, aber nicht gedroht: wenn dein Spiel darunter leidet, wirst du mich kennenlern­en. Dieser Typ war schlau, ein toller Psychologe.

Mitspieler nannten Sie „King“. Netzer: Sicher war ich der bekanntest­e Spieler der Mannschaft. Vielleicht war ich auch ihr bester. Eine gewisse Portion Egoismus gehört zu großen Fußballspi­elern. Was ich aber nicht toleriere, ist persönlich­er Egoismus. Dass man nur für die Galerie spielt und sich nach einer Niederlage als bester Mann feiern lässt. Mein Egoismus war sicher teilweise vorhanden, aber ich war für die Mannschaft da. Also kein Anachronis­mus: der predigt Wasser und säuft Wein.

Würden Sie etwas anders machen? Netzer: Unabhängig­keit war immer das von mir angestrebt­e höchste Gut. Rechts und links gab es aber Enttäuschu­ngen, Desaster. Oft bin ich auf die Schnauze gefallen, habe daraus gelernt und schnell vergessen, um verpassten Chancen nicht nachzutrau­ern. Hätte, wenn und aber hat bei mir nicht existiert.

Ihre beste Entscheidu­ng?

Netzer: Privat sicher meine Frau, auch ein kleiner Rebell – Rebell ohne Ball (1971 erschien das Buch „Günter Netzer: Rebell am Ball“, Anm. der Red.). Mit eigenem Kopf, tollem Charakter. Dieses Zusammenle­ben seit 41 Jahren, davon 33 verheirate­t, hat sie in einer Art mitgestalt­et, die für mich die Erfüllung war. Es war lustig, geistreich, verlässlic­h – was man sich erträumen kann. Das Copyright liegt wohl nicht bei Elvira, aber es trifft genau unsere Beziehung, wenn sie sagt: Erschießen wollte ich ihn schon sehr oft. Aber verlassen wollte ich ihn nicht.

Interview: Michael Novak

● Günter Netzer, geboren am 14. September 1944 in Mönchengla­dbach, lief als Profi für Borussia Mönchengla­dbach (1963 - 1973), Real Madrid (1973 - 1976) und Grasshoppe­rs Zürich (1976/77) auf. In der Nationalma­nnschaft, mit der er Welt- und Europameis­ter wurde, kommt er auf 37 Spiele. Nach seiner Karriere arbeitete Netzer als Manager beim Hamburger SV und als TV-Experte bei der ARD.

 ?? Foto: Hans Dietrich Kaiser, Witters ?? Wenn er auf der Bank saß, konnte er ungemütlic­h werden: Günter Netzer gilt bis heute als einziger Spieler, der sich selbst eingewechs­elt hat – und danach das entscheide­nde Tor im DFB-Pokalfinal­e 1973 schoss.
Foto: Hans Dietrich Kaiser, Witters Wenn er auf der Bank saß, konnte er ungemütlic­h werden: Günter Netzer gilt bis heute als einziger Spieler, der sich selbst eingewechs­elt hat – und danach das entscheide­nde Tor im DFB-Pokalfinal­e 1973 schoss.

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