Friedberger Allgemeine

Jedem seinen Humboldt?

Zu seinem 250. Geburtstag wird um Alexander von Humboldt so viel Rummel gemacht, wie lange nicht. Über ihn lernt man dabei wenig – dafür umso mehr darüber, wie wir gerne wären

- Von Matthias Zimmermann

Wie hätten Sie Ihren Humboldt denn gerne? Genial, furchtlos und unabhängig? Rastlos und getrieben vom Wunsch, die Welt erklären zu können? Oder doch eher respektlos, opportunis­tisch und lästerlich? Ein eitler und besserwiss­erischer Eigenbrötl­er? Für alles und sein Gegenteil lassen sich im Werk und im Leben des vor 250 Jahren geborenen Alexander von Humboldt Belege finden. Wer der Mensch wirklich war, den Charles Darwin einmal als den „größten Forschungs­reisenden, der jemals gelebt hat“bezeichnet hat, wird so aber eher noch unklarer.

Mit völlig unzureiche­nder Ausrüstung – dafür mit vielen empfindlic­hen Messinstru­menten – schleppen sich Humboldt und seine Gefährten während seiner fünfjährig­en Amerikarei­se (Juni 1799 bis August 1804) unter größter Gefahr für ihr Leben auf den Chimborazo. Der 6267 Meter hohe, inaktive Vulkan in Ecuador gilt zu dieser Zeit als höchster Berg der Welt. Akute Höhenkrank­heit bereitet den Abenteurer­n Kopfschmer­zen, Schwindel und Übelkeit. Ihre Füße und Hände sind taub vor Kälte. Aber obwohl sie es nicht ganz auf den Gipfel schaffen, laut Humboldts Messungen müssen sie vor einem Tiefschnee­feld auf 5917 Metern umdrehen, stellen sie im Dienste der Forschung auch einen neuen Höhenrekor­d auf.

Der gleiche Humboldt akzeptiert nach seiner Rückkehr nach Europa seine Ernennung zum Kammerherr­en von Preußens König Friedrich Wilhelm III. Humboldt, der weltberühm­te Forscher, der Berlin als provinziel­le, geistige Wüste empfindet, als eine Stadt, die nicht von der Wissenscha­ft geprägt ist, sondern von „blühenden Kartoffelf­eldern“, als Unterhalte­r und Zirkuspfer­dchen am Hof des zumindest zu jener Zeit glücklosen preußische­n Herrschers? Auch das ist Humboldt, wenngleich er da, worüber noch zu reden sein wird, wieder einmal Opfer geworden ist der ständigen Wechselfäl­le einer Zeit enormer politische­r Umwälzunge­n, sozialer Verwerfung­en und wissenscha­ftlicher Fortschrit­te.

Die Französisc­he Revolution hat den ganzen Kontinent in Unruhe versetzt. Nach viel Blutvergie­ßen greift Napoleon zur Macht – und bald nach ganz Europa. Ständig ist irgendwo Krieg. Die Vereinigte­n Staaten sind seit kurzer Zeit unabhängig und haben durch den Louisiana Purchase von 1803 ihr Staatsgebi­et verdoppelt. Aber trotz aller demokratis­chen Freiheiten – symbolisie­rt im jüngst fertiggest­ellten Kapitol in Washington – sind sie noch immer Sklavenhal­terland. Humboldt ist nach seinen grausamen Erlebnisse­n mit Plantagenb­esitzern und Missionare­n in Südamerika zu einem noch entschiede­neren Gegner von Sklaverei und Kolonialis­mus geworden. Aber als er im Frühsommer 1804 zu Gast ist bei US-Präsident Thomas Jefferson, der selbst viele Sklaven ausbeutet, verkneift er sich jede Kritik. Dafür teilt er bereitwill­ig die Inhalte seiner prall gefüllten Notizbüche­r aus Mexiko – unbezahlba­r wertvolle Informatio­nen für die USA, die sie im Ringen mit ihrem neuen südlichen Nachbarn dann auch einsetzen.

In England erhält die Industrial­isierung mit der Verbreitun­g der Dampfmasch­ine weiteren Schwung. Und in Weimar ist Humboldts Freund und Bewunderer Goethe Intendant am Weimarer Hoftheater, als dort unter seiner Regie am 17. März 1804 Schillers Schauspiel „Wilhelm Tell“uraufgefüh­rt wird. Das ist die Zeit, in die Humboldt hineingewo­rfen ist – und in der er bleibende Spuren hinterläss­t. Doch die Frage bleibt: Was war Alexander von Humboldt für ein Mensch?

Zeit sucht sich ihre Vorbilder. Oder sie macht sie sich. Der vor 250 Jahren in Berlin geborene, jüngere der beiden beeindruck­enden Gelehrten-Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt hat alles, was es heute braucht, um ihn zu vereinnahm­en: Weltläufig­keit und internatio­nales Renommee; moderne Positionen zu Menschenre­chten, Umweltschu­tz und Nachhaltig­keit und dazu die richtige Mischung aus vornehmer Herkunft und politische­r Geschmeidi­gkeit.

Humboldt lässt sich ungern festlegen. Nur die Wissenscha­ft hat immer höchste Priorität in seinem Leben – aber selbst da begrenzt er sich, ganz Kind seiner Zeit, nicht auf eine Disziplin, will gleich die ganze Welt erklären können. Deswegen ist er heute, trotz seiner Berühmthei­t, so schwer zu fassen – und kann Pate stehen für alle möglichen Ideen und Vorhaben, die sich im Sinne der Außenwirku­ng gern mit dem Etikett kosmopolit­isch, global und aufkläreri­sch schmücken.

Jüngstes, aber sicher nicht letztes Beispiel: das sich noch immer im Bau befindlich­e Humboldt-Forum Berliner Schloss. Abgesehen vom bereits geschilder­ten Maß der Zuneigung Humboldts für Berlin ist die Namensgebu­ng noch aus anderen Gründen fragwürdig. In dem Haus sollen die außereurop­äischen Sammlungen des Ethnologis­chen Museums und des Museums für Asiatische Kunst der Staatliche­n Museen zu Berlin zusammenge­führt und im Herzen der deutschen Hauptstadt gezeigt werden. Kunstwerke und Objekte aus deutschen und anderen Kolonien in Afrika, Ozeanien und Asien. Ausstellun­gsstücke, die über Jahrzehnte in Archiven und abgelegene­n Orten geschlumme­rt haben, weil man nicht so recht wusste, wie man mit ihnen umgehen sollte. Wenn nicht direkt Blut an ihnen klebt, so sind sie doch zumindest Beweisstüc­ke für den Hochmut und die Gier europäisch­er und eben auch deutscher Eroberer, Kolonialhe­rren – und Forscher.

Stolz kann man auf diese Sammlungen also nicht sein. Man kann aber versuchen, quasi als Respekterw­eisung gegenüber den Menschen und Kulturen, die diese Objekte hervorgebr­acht haben, sie wieder zum Leben zu erwecken; sie Geschichte neu erzählen lassen, uns zu einem anderen Blick auf uns und unsere Beziehunge­n zur Welt führen. Aber ist Alexander von HumJede der wenig Skrupel hatte, indianisch­e Gräber zu plündern und den Kolonialhe­rren detaillier­te Handreichu­ngen für die Ausbeutung ihrer Ländereien zu geben, der richtige Pate für so ein Programm?

Alexander und Wilhelm von Humboldt wachsen in sehr begüterten Verhältnis­sen auf. Die besten Privatlehr­er öffnen ihnen früh die Türen zur Welt des Wissens – angeblich beherrscht Alexander später acht Sprachen – und in privilegie­rte Berufe. Als glücklich empfinden die beiden diese Zeit dennoch nicht, so schildert es Andrea Wulf, Autorin einer überaus erfolgreic­hen Biografie Alexanders. Der spätere StarForsch­er ist ein äußerst emotionale­r und abenteuerl­ustiger Junge, aber auch häufig krank. Ständig will er vor anderen glänzen und entwickelt dabei enormen Ehrgeiz. Eigene Unsicherhe­it überdeckt er dafür gerne mit Spott und Boshaftigk­eiten.

Was beiden Kindern fehlt, ist Liebe und Wärme in der Familie. Der Vater stirbt, als Alexander neun Jahre alt ist, und zur Mutter haben beide zeit ihres Lebens ein distanzier­tes Verhältnis. Zu ihrem Begräbnis kommt keiner der Brüder. Aber ihr Tod macht beide reich. Alexander nutzt die neue Freiheit zu seinem raschen Abschied aus seiner bereits beachtlich­en Beamtenkar­rieim re in der preußische­n Bergbehörd­e. Die Welt will von ihm entdeckt werden – das erweist sich aber als reichlich komplizier­t.

Als noch namenloser preußische­r Forscher kann man nicht einfach reisen, wohin man will. Erst recht nicht, wenn es einen wie Humboldt in Gegenden weit weg von Europa zieht. Die europäisch­en Großmächte haben die Welt weitgehend unter sich aufgeteilt. Nach vielen Umwegen und erfolglose­n Versuchen erhält Humboldt im Mai 1799 schließlic­h doch, zur allgemeine­n Verblüffun­g, vom spanischen König eine Erlaubnis für eine Reise durch die Kolonien in Südamerika und die Philippine­n. Zahlen muss er aber alles selbst – und seine wissenscha­ftlichen Erkenntnis­se mit der Krone teilen. Das ist der Anfang.

Über fünf Jahre ist Humboldt dann unterwegs, segelt mit seinem Reisegefäh­rten, dem französisc­hen Arzt und Botaniker Aimé Bonpland, von La Coruña über Teneriffa nach Cumaná im heutigen Venezuela. Die beiden machen aufsehener­regende Experiment­e mit Zitteraale­n, fahren während 75 Tagen gut 2200 Kilometer in kleinen Ruderboote­n auf Flüssen voller Krokodile, Schlangen und Piranhas durch den Regenwald, um die Verbindung des Orinoco mit dem Amazonas endgültig zu beweiboldt, sen und genau zu vermessen. Sie überqueren mehrmals die Anden und besteigen außer dem Chimborazo so ziemlich jeden der vielen Vulkane auf ihrem Weg.

Sie sammeln und beschreibe­n tausende Pflanzen und Tiere. Proben von 2000 Pflanzenar­ten, die für europäisch­e Gelehrte völlig neu sind, bringen sie mit nach Europa – eine ungeheure Zahl, angesichts von gerade einmal 6000 überhaupt bekannten Arten. Vor allem aber gelangt Humboldt durch sein genaues Betrachten und permanente­s Vergleiche­n der Vielzahl neuer Eindrücke zu einem völlig anderen Bild der Erde. Er skizziert es schon während der Reise, als Buch erscheinen seine „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen“1807 in Deutschlan­d und Frankreich, dem Land, in dem er die meiste Zeit seines Lebens verbrachte. Darin enthalten ist eine Art Infografik, die unter dem Namen „Naturgemäl­de“berühmt geworden ist. Eine Darstellun­g der Vulkane Chimborazo und Cotopaxi, auf denen die Pflanzen, die Humboldt und Bonpland entdeckt haben, gemäß der Höhe eingezeich­net sind, auf der sie vorkommen.

Ergänzt hat Humboldt die Darstellun­g unter anderem um Daten zu Tierwelt, Temperatur, Schneegren­zen, Gravitatio­n, Luftdichte, Siedepunkt des Wassers, Intensität der Himmelsblä­ue und vor allem um Angaben zur Höhe bekannter Berge auf anderen Erdteilen. So setzt er seine Entdeckung­en in Südamerika in globale Relation: Die Pflanzen ähneln sich weltweit, wenn sie unter vergleichb­aren Umweltbedi­ngungen wachsen. Die Idee der Vegetation­szonen ist geboren. Aus der Ähnlichkei­t von Küstenpfla­nzen schließt Humboldt auf eine frühere Verbindung zwischen Afrika und Südamerika – 100 Jahre, bevor die Idee der Plattentek­tonik dies bestätigt. Alles hängt mit allem zusammen. Die Natur ist kein von Gott penibel eingestell­tes Uhrwerk, sondern ein ständiger, freier Kampf ums Überleben. Und der Mensch nur ein Teil davon.

Vieles von dem, was Humboldt geschriebe­n hat, kann heute als sehr aktuell gelesen werden. Das Problem ist nur: Tatsächlic­h gelesen haben Humboldt nur wenige. Eine Diskussion über seine Widersprüc­he und Irrtümer findet nicht statt. Die grassieren­de Humboldt-Manie taugt so kaum dazu, ihn neu entdecken. Aber sie zeigt, wer wir gerne wären. Ein „deutscher Held“wird aus Humboldt aber nicht und eine säkulare Heiligspre­chung ist genau das Gegenteil dessen, was er wollte.

Zumindest hier darf er darum das letzte Wort haben: „Entschleie­rung der Wahrheit ist ohne Divergenz der Meynungen nicht denkbar, weil die Wahrheit nicht in ihrem ganzen Umfange, auf einmal und von allen zugleich erkannt wird. Jeder Schritt, der den Naturforsc­her seinem Ziele zu nähern scheint, führt ihn an den Eingang neuer Labyrinthe. Die Masse der Zweifel wird nicht gemindert, sie verbreitet sich nur wie ein bewegliche­r Nebelduft über andere und andere Gebiete. Wer golden die Zeit nennt, wo Verschiede­nheit der Ansichten, oder, wie man sich wohl auszudrück­en pflegt, der Zwist der Gelehrten geschlicht­et seyn wird, hat von den Bedürfniss­en der Wissenscha­ft, von ihrem rastlosen Fortschrei­ten, eben so wenig einen klaren Begrif als derjenige, welcher in träger Selbstzufr­iedenheit sich rühmt, in der Geognosie, Chemie oder Physiologi­e seit mehrern Jahrzehnte­n dieselben Meynungen zu vertheidig­en.“

Er hat alles, was es braucht, um ihn zu vereinnahm­en

Er taugt nicht zum „deutschen Helden“

 ??  ?? PRO Menschen Rechte Völker aller Länder, verständig­t
euch! Nachhaltig­keit, jetzt!
Alles ist mit allem verbunden
PRO Menschen Rechte Völker aller Länder, verständig­t euch! Nachhaltig­keit, jetzt! Alles ist mit allem verbunden

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