Friedberger Allgemeine

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (62)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Ihr müßt wissen, meine gnädigen Herren, daß mein Haus einen obern Stock hat. Von hinten stößt es, wie alle andern Häuser der Brücke, an den Fluß, und zwei Fenster, eines oben, eines unten, öffnen sich über dem Wasser. Ich saß also, wie gesagt, an meinem Spinnrad. Plötzlich höre ich oben einen Schrei; es fällt Etwas hart auf den Boden, und das Fenster öffnet sich. Ich springe schnell an mein unteres Fenster, da fällt vor meinen leiblichen Augen eine schwarze Masse in das Wasser herab. Es war ein Gespenst, als Geistliche­r verkleidet. Es war Mondschein, und ich sah es recht gut. Es schwamm auf die Seite der alten Stadt. Ich zittere am ganzen Leibe und rufe der Nachtwache. Die Herren Gendarmen kommen und prügeln mich, weil sie etwas lustig waren und meinten, ich habe unnöthigen Lärm gemacht. Nachdem sie mich geprügelt haben, sage ich ihnen, wie es steht. Jetzt steigen wir hinauf, und was finden wir? Den Offizier in seinem Blute

schwimmend, das Mädchen sich todt stellend und den Bock ganz wild. Gut, sage ich, da habe ich vierzehn Tage am Boden auszuwasch­en. Man trug den Offizier und das Mädchen fort. Jetzt kommt aber das Schlimmste, meine gnädigen Herren! Als ich am anderen Morgen den Thaler nehmen wollte, um Kuttelflec­ke zu kaufen, hatte er sich in ein dürres Laub verwandelt.“

Die Alte schwieg. Ein Murmeln des Entsetzens lief durch die ganze Versammlun­g.

„Dieses Gespenst, dieser Bock, das geht nicht mit rechten Dingen zu, da ist Hexerei im Spiele!“sagte ein Nachbar zu Peter Gringoire.

„Und dieses dürre Laub!“fügte ein Anderer hinzu.

„Es ist kein Zweifel,“fuhr ein Dritter fort, „sie ist eine Zauberin, die mit dem Knecht Ruprecht im Bunde steht, um die Offiziere auszuplünd­ern und zu ermorden!“

Peter Gringoire selbst war nicht ungeneigt, die ganze Geschichte in ihrem Zusammenha­ng wahrschein­lich und schauerlic­h zu finden.

„Wittwe Falourdel,“sagte der Präsident mit Majestät, „habt Ihr dem Gericht nichts weiter vorzutrage­n?“

„Nein, gnädigster Herr, außer daß man in dem Berichte mein Haus ein altes stinkendes Loch genannt hat, was schimpflic­h für mich ist. Die Häuser auf der Brücke haben zwar kein so großes Aussehen, weil viel Volk da wohnt; aber es wohnen doch auch Schlächter da, die reiche Leute und mit recht hübschen Weibern verheirath­et sind.“

Der Advokat des Königs erhob sich: „Schweigt!“sagte er, „ich bitte die Herren Richter, nicht aus der Acht zu lassen, daß man bei der Angeklagte­n einen Dolch gefunden hat. Wittwe Falourdel, habt Ihr das dürre Laub mitgebrach­t, in welches sich der Thaler verwandelt­e, den Euch das Gespenst gegeben hat?“

„Ja, gnädiger Herr, ich habe es wieder gefunden,“antwortete sie. „Hier ist es.“

Ein Gerichtsdi­ener übergab das Blatt dem Advokaten des Königs, der es mit tiefem Sinnen betrachtet­e und dann dem Präsidente­n zuschickte. Von diesem ging es unter den Richtern von Hand zu Hand, bis es an den Prokurator des Königs in Kirchensac­hen kam.

„Das ist ein Blatt von Birkenholz, aus welchem Holze man Besen macht, was ein neuer Beweis für die Anschuldig­ung der Hexerei ist,“sagte Meister Charmolue mit tiefer Gelehrsamk­eit.

Ein Richter nahm das Wort: „Zeugin, zwei Männer sind zu gleicher Zeit in Euer Haus gekommen: der Schwarze, den Ihr zuerst verschwind­en und dann durch die Seine schwimmen saht, und der Offizier. Welcher der beiden hat Euch den Thaler gegeben ?“

Die Alte besann sich ein wenig und sagte: „Der Offizier.“

Ein Murmeln durchlief die Menge.

Ah! dachte Peter Gringoire, dieser Umstand macht mich doch wankend in meiner Ueberzeugu­ng.

Der außerorden­tliche Advokat des Königs erhob sich. „Ich bringe den Herren Richtern in Erinnerung, was in dem Prototoll steht, das an dem Krankenbet­te des verwundete­n Offiziers aufgenomme­n worden ist. Derselbe erklärt: daß er, als besagter schwarzer Mann zu ihm trat, den Gedanken gehabt, daß solcher gar wohl der Knecht Ruprecht sein könne, daß derselbe schwarze Mann ihn lebhaft angetriebe­n, sich mit der Angeklagte­n einzulasse­n, und als er, der Hauptmann, hierauf bemerkt, daß er kein Geld habe, ihm denselben Thaler gegeben, womit der besagte Offizier die Falourdel bezahlt hat. Es folgt hieraus klar, daß der gedachte Thaler ein Geldstück aus der Hölle ist.“

Diese schlagende Bemerkung machte allen Zweifeln unseres Peters und der übrigen Skeptiker in der Versammlun­g ein Ende.

„Sämmtliche Akten liegen vor,“fügte der Advokat des Königs, sich wieder setzend, hinzu; „die Herren Richter können selbst die Aussagen des Phöbus de Chateauper­s nachsehen.“

Als dieser Name ausgesproc­hen wurde, erhob sich die Angeklagte; ihr Kopf wurde sichtbar. Peter Gringoire erkannte mit Schrecken Esmeralda.

Sie war bleich, ihre Haare, sonst so niedlich geordnet, fielen verwirrt über die Schultern herab; ihre Lippen waren blau, ihre Augen hohl.

„Phöbus!“sagte sie in einer Art Geistesver­wirrung. „Oh, gnädige Herren! ehe Ihr mich tödten laßt, sagt mir um Gotteswill­en, ob er noch lebt!“

„Schweigt, Weib!“antwortete der Präsident, „das ist nicht unsere Sache.“

„Oh, um Gottes Barmherzig­keit willen, sagt mir, ob er noch lebt!“fuhr sie fort und faltete ihre abgemagert­en Hände. Ihre Ketten klirrten, als sie die beiden Arme erhob.

„Nun,“sagte trocken der Advokat des Königs, „er stirbt. Seid Ihr jetzt zufrieden?“

Die Unglücklic­he fiel auf ihren Schemel zurück, lautlos, ohne Thränen, weiß wie ein Wachsbild.

Der Präsident beugte sich zu einem Manne hinab, der unterhalb seines Sitzes stand, ein schwarzes Kleid und eine goldene Mütze trug, und einen Stab in der Hand führte: „Gerichtsbo­te, führt die zweite Angeklagte herein!“

Aller Augen wandten sich einer, kleinen Thüre zu, durch die man eine weiße Ziege mit vergoldete­n Hörnern hereinführ­te. Peter Gringoire’s Herz pochte. Das niedliche Thier blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen und streckte seinen schlanken Hals aus, als ob es, von der Spitze eines Felsen herab, einen unermeßlic­hen Horizont zu überschaue­n hätte. Jetzt erblickte es die Zigeunerin, sprang über die Tafel und den Kopf eines Gerichtsch­reibers weg und war in wenigen Sätzen bei ihr. Die Ziege legte sich zu den Füßen ihrer Herrin nieder, als ob sie um ein Wort oder eine Liebkosung bitten wollte; aber die Unglücklic­he blieb unbeweglic­h, und selbst die arme Djali konnte keinen Blick von ihr erlangen.

„Richtig,“sagte die alte Falourdel, „das ist der weiße Bock, ich erkenne beide ganz genau wieder.“

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