Putin wird zu Erdogans Problem
Warum sich die Türkei von allen Seiten im Stich gelassen fühlt, eine neue Flüchtlingswelle aus Syrien abzuwehren
Istanbul Was in der syrischen Provinz Idlib mit ihren drei Millionen verzweifelten Menschen geschehe, betreffe nicht nur die Türkei, sondern ganz Europa. Mit dieser schwer zu widerlegenden Aussage unterstreicht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Forderung an die Europäer, ihn bei der geplanten Einrichtung einer „Schutzzone“in Syrien zur Rückführung von Flüchtlingen zu unterstützen. Bis zu drei Millionen Syrer könne die Zone fassen, wenn sie entsprechend ausgedehnt werde.
Der türkische Staatschef will eine internationale Konferenz einberufen, um über das Projekt zu sprechen. Für Oktober plant er nach eigenen Worten eine Neuauflage des Vierer-Gipfels mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem russischen Staatschef Wladimir Putin vom vergangenen Jahr. Mit US-Präsident Donald Trump will sich Erdogan Ende kommender Woche bei der UN-Vollversammlung in New York zusammensetzen. Konflikte sind vorprogrammiert.
Die Türkei will die „Schutzzone“im kurdisch beherrschten Nordosten Syriens einrichten und verhandelt seit Monaten mit den USA, der Schutzmacht der Kurden, über das Projekt. Sollte es in den kommenden zwei Wochen keine Einigung mit Washington geben, werde die türkische Armee im Alleingang nach Syrien einmarschieren und die Zone nach ihren Vorstellungen einrichten, droht Erdogan.
Auch Richtung Europa richtet Erdogan seit Wochen ähnlich unverhohlene Warnungen. Er weiß, dass die EU wegen der erneut steigenden Flüchtlingszahlen in Griechenland alarmiert ist. Die Türkei, die bereits 3,6 Millionen Syrer aufgenommen hat, rechnet mit bis zu einer Million zusätzlicher Flüchtlinge aus Idlib, falls sich die Kämpfe dort verschärfen sollten. Mit der Drohung, notfalls „die Tore zu öffnen“und die Syrer nach Europa reisen zu lassen, will er die EU zur Unterstützung seiner Politik drängen.
Bei einem Treffen mit Putin und dem iranischen Präsidenten Hassan Ruhani in Ankara konnte Erdogan jedoch diese Woche keine Fortschritte erreichen. Seine Gäste zeigten keinerlei Bereitschaft, sein dringendstes Problem zu lösen und eine neue Fluchtwelle aus Idlib zu verhindern. Die Türkei möchte, dass die mit Russland und dem Iran verbündete Regierung in Syrien ihre Offensive in Idlib stoppt. Doch Moskau und Teheran haben andere Prioritäten. Putin sagte, die „terroristische Bedrohung“in Syrien müsse bekämpft werden. Das bedeutet: Die Offensive gegen die Rebellen in Idlib soll weitergehen.
Putins Schützling, der syrische Präsident Baschar al-Assad, saß beim Gipfel in Ankara zwar nicht mit am Tisch, doch er wurde von russischen Regierungsvertretern auf dem Laufenden gehalten. Assad will Idlib unter seine Kontrolle bringen und kann dabei massiv auf die russische Luftwaffe und proiranische Kampfverbände zählen. Die von der Türkei unterstützten und ausgerüsteten Rebellenkämpfer sowie die radikalen Islamisten der Organisation HTS, die in der Gegend das Sagen hat, können Assads Offensive dabei kaum etwas entgegensetzen.
Das Verhältnis zwischen Putin und Erdogan ist dabei kompliziert. Der Kremlchef will die Türkei nicht verprellen – er weiß, dass er den größten Nachbarn Syriens eines Tages beim Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes brauchen wird. Auch will Putin die Türkei aus dem westlichen Bündnis herauslösen. Deshalb muss Moskau in einigen Fragen auch auf die Türkei eingehen. Doch das ändert nichts daran, dass Putin in Syrien völlig entgegensetzte Ziele verfolgt als Erdogan. Und dass Russland auf die Türkei in der Flüchtlingsfrage kaum Rücksicht nimmt.
Für Erdogan hat die Entscheidung zum Kauf des russischen Luftabwehrsystems
Der Kremlchef verfolgt in Syrien ganz andere Ziele
S-400 die Abhängigkeit der Türkei von Russland erhöht. Es sei nicht ausgeschlossen, dass die Anwesenheit russischer Techniker in der Türkei zur Wartung der S-400 über die Zeit zu einer dauerhaften Stationierung von russischen Soldaten im Nato-Staat Türkei werde, sagt der Experte für türkisch-russische Beziehungen, Kerim Has. Die Entwicklung werde die politische Bewegungsfreiheit der Türkei nicht nur in Syrien, sondern auch im Kaukasus, auf dem Balkan und in anderen Regionen einschränken, sagte Has unserer Zeitung.