„Wir sehen die Bahn fast kollabieren“
Jahrelang wurde das Unternehmen kaputtgespart, um es fit für die Börse zu machen, kritisiert Claus Weselsky. Jetzt fordert der Chef der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer radikale Schritte
Herr Weselsky, Sie waren früher selbst Lokführer, noch bei der Reichsbahn in der DDR. Wie haben Sie den Beruf erlebt?
Claus Weselsky: Lokomotivführer zu sein, ist ein traumhaft schöner Beruf. Man hat viel Verantwortung, ist viel allein unterwegs. Aber es gibt viele Facetten, die einem das Gefühl gegeben haben, dass man wichtig ist, da man die Reisenden und wertvolle Güter durch das Land fährt. Am Ende des Tages wusste man, dass man etwas Sinnvolles tut, das anderen Nutzen bringt.
Kunden erleben heute die Bahn anders. Viele Züge verspäten sich. Was läuft derzeit schief bei der Bahn? Weselsky: Nicht nur derzeit, sondern seit Jahren läuft vieles schief bei der Bahn. Seit Jahren ist die Bahn nämlich mit falschen Zielsetzungen konfrontiert worden. Der frühere Bahnchef Hartmut Mehdorn hatte die Aufgabe, die Bahn fit für die Börse zu machen. Gerhard Schröder als damaliger Kanzler hatte den geplanten Börsengang angeordnet. Damit begann ein Prozess, der das Schleifen der Bahn in sich barg. Es wurde nicht mehr nach Antworten auf die Frage gesucht, wie man den besten Eisenbahnverkehr auf die Beine stellt. Stattdessen wurde alles betriebswirtschaftlich betrachtet. Wo kann ich noch etwas wegrationalisieren? Wo gibt es noch Schienen, Weichen, Gebäude, die verkauft werden können, um später Gewinn einzufahren? Heute sehen wir die Auswüchse dieser verfehlten Bahnpolitik.
Welche Fehler hat man gemacht? Weselsky: Die Bahn hat Infrastruktur abgebaut. Gleichzeitig reden sich Politik und Unternehmen ein, dass das Schienennetz Gewinn erzeugen muss. Die Bahn-Infrastruktur ist aber ganz klar ein Subventionsbereich, in den Steuermilliarden hineinfließen müssen, um das Netz zu erhalten und auszubauen. Die Aufstellung des Konzerns als Aktiengesellschaft ist das Ergebnis des früher gewünschten Börsengangs. Wir sollten es aber tunlichst vermeiden, heute Steuermilliarden in ein Vehikel zu pumpen, das gebaut worden ist, um an die Börse zu gehen.
Sie fordern also eine andere Rechtsform als die Aktiengesellschaft für die Bahn?
Weselsky: Auf jeden Fall sollte der Bund als Eigentümer den Infrastruktur-Bereich der Bahn komplett neu ausrichten, bevor Steuergeld investiert wird. DB-Netz, DB-Service und die Energieversorgung sollten zu einer Gesellschaft zusammengeführt werden, die nicht mehr als AG Gewinn erzeugen muss. Besser wäre eine gemeinnützige GmbH oder eine Anstalt öffentlichen Rechts. Wir müssen raus aus dem Gewinnstreben!
Überlegt wird, die Tochter Arriva zu verkaufen, die Züge in England betreibt – auch, um die Finanzlage zu verbessern. Was halten Sie davon? Weselsky: Da bin ich zwiegespalten. Der Verkauf von Arriva wäre ein Verkauf von Tafelsilber. Arriva gehört zu den ausländischen Gesellschaften, die Gewinne erwirtschaften. Wenn ich das veräußere, fehlt dieses Geld. Besser könnte es sein, einen Teil von Arriva an die Börse zu bringen. Dann nimmt man Geld über den Börsengang ein, ein Teil des Gewinns bleibt später aber. Eine andere Tochter – Schenker Logistik – ist nach meiner Überzeugung dagegen kein Kerngeschäft. Die Bahn ist kein weltweiter Logistiker und muss nicht auf allen Hochzeiten tanzen. Schenker Logistik zu verkaufen, würden wir als Gewerkschaft nicht bekämpfen. Man muss sich nicht selbst Konkurrenz machen, indem man Lkw neben den eigenen Zügen fahren lässt. Wo muss die Bahn investieren, um besser zu werden?
Weselsky: In die Infrastruktur muss investiert werden. Und zwar in die kleinteiligen Elemente: In fünf Kilometer mehr Gleise, wo es einen Engpass gibt, in Überholgleise. Früher hat man lange Güterzüge auf Überholgleisen abgestellt, während der schnellere ICE daran vorbeifuhr. Überholgleise kosten aber Geld – und wurden abgebaut. Heute haben wir nicht mehr genügend Überholgleise. Plötzlich ist ein Zug dem anderen im Wege. Hier sind ohne Sinn und Eisenbahn-Sachverstand Rationalisierungsmaßnahmen durchgeführt worden. Jetzt haben wir das Ende der Fahnenstange erreicht, wir sehen das Eisenbahnsystem fast kollabieren. Und jetzt soll die Digitalisierung alles verbessern? Das glaube ich nicht, da bekomme ich einen dicken Hals. Weselsky: Das Problem ist, dass wir in der Infrastruktur nicht einmal auf der Höhe der Zeit sind. In der Sicherungstechnik sind wir teilweise noch auf dem Stand von 1950. Mir würde es schon reichen, wenn wir fit für das Jahr 2020 werden. Stattdessen reden wir davon, dass wir Techniken für 2030 oder 2040 brauchen! Jetzt werden riesige Summen bewegt, aber keiner hat einen Plan, ob das alles zusammenpasst. Weselsky: Die Vergabe von Beraterverträgen an ehemalige Vorstände unter Umgehung des Aufsichtsrats war ein Sündenfall. Im Fokus steht Herr Ulrich Homburg als früheres Vorstandsmitglied. Dass das Unternehmen geduldet hat, an Aufsichtsgremien vorbei solche Verträge abzuschließen, lässt erkennen, wie krank das System an der Spitze ist. Es geht nicht um die Sache, wie man die Eisenbahn besser organisiert, sondern wie bei einer Söldnertruppe darum, wie viel Kohle man machen kann. Interview: Michael Kerler ⓘ
Person Claus Weselsky ist Chef der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer – kurz GDL. 2014 wurde er mit seiner unnachgiebigen Haltung bei bundesweiten Bahnstreiks bekannt. Diese Woche hielt er sich für die Betriebsrätefachkonferenz der GDL in Sonthofen auf.