Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (65)
ZEin Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg
igeunermädchen,“nahm der Präsident das Wort, „Du bist also geständig aller Dir zur Last gelegten Thatsachen, Zauberei, Prostitution und Meuchelmord betreffend, verübt an der Person eines Hauptmanns der königlichen Bogenschützen, Phöbus de Chateaupers genannt?“
Das Herz der Angeklagten war zum Sprengen voll und sie antwortete schluchzend: „Alles, was Ihr wollt, aber laßt mich schnell tödten!“
„Herr Prokurator des Königs in Kirchensachen,“sprach der Präsident feierlich, „der Gerichtshof ist bereit, Euer Requisitorium anzuhören.“
Meister Jakob zog einen ungeheuern Aktenstoß hervor und begann mit vieler Salbung seinen Vortrag in lateinischer Sprache. Er hatte noch nicht den Eingang vollendet, als schon dicke Schweißtropfen über seine Stirne rannen. Plötzlich, mitten in einer Periode, unterbrach er seinen Vortrag und rief in
französischer Sprache: „Meine Herren, der Teufel ist bei dieser Sache so sehr im Spiele, daß er in eigener Person unseren Debatten anwohnt und die Majestät des Gerichts verhöhnt. Seht dorthin!“
Mit diesen Worten deutete er auf die weiße Ziege, die, als sie den Meister Jakob Charmolue gestikuliren und mit den Händen fechten sah, sich auf den Hintern gesetzt und ihn mit ihren Vorderfüßen nachgeäfft hatte. Dieser Zwischenfall wurde als letzter Beweispunkt angesehen und that große Wirkung. Man band der Ziege die Füße zusammen und der Prokurator des Königs nahm den Faden seines Vortrags wieder auf. Der Schluß seines Requisitoriums war der Antrag: „Die hier gegenwärtige Angeklagte, als der Zauberei und des Mords überwiesen, zur Kirchenbuße auf dem Platz der Liebfrauenkirche zu verurtheilen und sofort dieselbe auf dem Grèveplatz durch den Strang vom Leben zum Tod bringen zu lassen.“
Ein anderer Schwarzrock in der Nähe der Angeklagten erhob sich; es war ihr Advokat. Die hungrigen Richter fingen an zu murren.
„Advokat, faßt Euch kurz,“sprach der Präsident.
„Herr Präsident,“antwortete der Advokat, „dieweil die Angeklagte des Verbrechens geständig ist, so habe ich den Herren Richtern nur noch einen Text des salischen Gesetzes in Erinnerung zu bringen. Wenn eine Hexe einen Menschen gefressen hat, und dessen überwiesen ist, so hat sie eine Strafe von achttausend Silberlingen zu bezahlen. –- Möge es nun dem Gerichtshof gefällig sein, meine Clientin zu dieser Strafe zu verurtheilen.“
„Abgeschaffter Text,“erwiederte der Advokat des Königs.
„Nego,“versetzte der Vertheidiger der Angeklagten.
„Zur Abstimmung! Zur Abstimmung!“riefen mehrere Richter zumal, „das Verbrechen ist offenbar, und es ist schon spät.“
Der Präsident ließ alsbald zur Abstimmung schreiten. Der Gerichtsschreiber schrieb das Urtheil nieder und eröffnete es der Angeklagten in folgenden Worten:
„Zigeunermädchen, an dem Tage, da es dem Herrn unserem König gefallen wird, um die Mittagsstunde, werdet Ihr in einem Karren, in bloßem Hemd und nackten Füßen, den Strick um den Hals, vor den großen Eingang der Liebfrauenkirche gebracht werden, daselbst Buße zu thun, mit einer zweipfündigen Wachskerze in der Hand, und werdet von dort auf den Grèveplatz geführt werden, wo man Euch an gemeinem Stadtgalgen hängen wird, bis der Tod erfolgt, und ein Gleiches wird dieser Eurer Ziege geschehen; und habt dem Official drei goldene Löwen zu bezahlen, um der von Euch begangenen und gestandenen Verbrechen der Zauberei und des Meuchelmords willen, so Ihr an der Person des Phöbus de Chateaupers, Hauptmanns der königlichen Bogenschützen, verübt habt. Gott sei Eurer armen Seele gnädig!“
„Oh! es ist ein Traum!“sagte die Unglückliche halb besinnungslos für sich. In demselben Augenblicke wurde sie von plumpen Fäusten ergriffen und weggetragen.
V. Laßt alle Hoffnung hinter euch
Wenn im Mittelalter ein Gebäude vollständig war, befand sich fast eben so viel Mauerwerk unter der Erde, als über derselben. Ein Palast, eine Burg, eine Kirche hatten immer einen doppelten Grund. Eine Cathedrale hatte gewissermaßen eine andere unterirdische, niedere, finstere, geheimnißvolle Kirche unter sich, blind und stumm unter der oberen Kirche, in der das Licht glänzte und Tag und Nacht Orgeln und Glocken ertönten. Manchmal war auch der unterirdische Theil der Kirche ein Grab. In den Palästen und Bastillen war der unterirdische Theil ein Kerker, bisweilen eine Gruft, manchmal beides zumal. Diese gewaltigen Gebäude hatten nicht bloß eine einfache Grundmauer, sondern eigentliche Wurzeln im Boden: Zimmer, Galerien, Treppen, wie im oberen Bauwerk. Im Justizpalast zu Paris bestand der unterirdische Theil des Gebäudes aus Gefängnissen. Diese Kerker gingen tief in den Boden hinab, einer über dem anderen. Einmal da unten, in der untersten Tiefe, begraben, gute Nacht Tag, Luft, Leben: Laßt alle Hoffnung hinter euch! Das elende Geschöpf, einmal da hinuntergestoßen, erblickte das Licht des Tages nur wieder, um von der Welt auf ewig Abschied zu nehmen. Glücklich noch, wenn das Schwert des Henkers oder die Flamme des Scheiterhaufens einen schnellen Ausgang aus dem Leben bereitete. Viele verfaulten im dumpfen Kerker bei lebendigem Leibe. Das war eine Begnadigung, und die Justiz nannte es: Vergessen.
In eine dieser unterirdischen Höhlen hatte man das arme schwache Zigeunermädchen gebracht. Hier lag sie von dichter Finsterniß umgeben, an die feuchte Mauer gekettet, lebendig begraben. Kalt wie die Nacht, kalt wie der Tod, von der Menschheit abgeschieden, kein Strahl des Tages mehr in ihre Augen fallend, ihre zarten Glieder in Eisen geschlagen, so saß sie da, neben einem Krug Wasser und einem Stück schwarzen Brodes, auf halbvermodertem Stroh, ein Bild des Jammers. Ihre Glieder lagen halb im Wasser, das von den feuchten Wänden trof und sich in einer Vertiefung neben ihr sammelte.
Der Athem in ihrer Brust ging noch aus und ein, aber sie lebte nicht mehr. Phöbus, die Sonne, der helle Mittag, die frische Luft, die Straßen von Paris, die Tänze unter dem Beifall des Volks, dann der Priester, der Dolch, das Blut, Folter und Galgen: Alles das ging an ihrer erstarrten Seele vorüber, bald als ein lieblicher Traum, bald als ein mißgestalteter drückender Alp; es war aber nichts weiter mehr, als ein unbestimmter furchtbarer Kampf, der sich in der Nacht des Kerkers verlor, oder eine ferne Musik, die da oben auf der Erde spielte, und die man in der Tiefe nicht mehr hörte, in welcher das unglückliche Geschöpf schmachtete.