Friedberger Allgemeine

Eine Gemeinscha­ft für Gehörlose

Das Leben ist oft schwer für Menschen, die nur mit Gebärdensp­rache kommunizie­ren. Vor allem, wenn sie krank sind. Und allein. Die Kartei der Not greift Betroffene­n unter die Arme

- VON DANIELA HUNGBAUR

Augsburg Was für ein bunter Raum. Poster von London, New York und Meeressträ­nden schmücken die Wände. An der Badezimmer­tür hängt eine riesige FC-Bayern-München-Fahne. An der Decke sind rote und weiße Lämpchen angebracht, der Fernseher hat eine rote Holzumrahm­ung, die Bettwäsche ziert ein riesiger Leuchtturm. Und dazwischen hängen kleine und große Zeichnunge­n. Das Zimmer eines jungen Mannes – könnte man meinen. Doch es befindet sich in der Wohngruppe eines vollstatio­nären Heimes der Regens Wagner Stiftung in Augsburg für gehörlose Menschen. 65 Jahre alt und schwer krank ist der Mann, der sich so kreativ sein kleines Reich geschaffen hat.

Seit Juni vergangene­n Jahres lebt der Rentner hier, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Er ist ein ausgesproc­hen freundlich­er, aufgeschlo­ssener Mann. Gehörlos ist er seit seiner Geburt. Seine Eltern waren es bereits. Auch eine seiner beiden Schwestern lebt mit dem Handicap. Doch die Gehörlosig­keit war nicht der Grund, weshalb sich der 65-Jährige für die Wohngruppe entschiede­n hat. Die Diagnose Hautkrebs vor zwei Jahren, die Metastasen und die vielen strapaziös­en Behandlung­en schwächten ihn körperlich und psychisch in einem Ausmaß, dass er sich nicht mehr in der Lage sah, weiter allein in seiner Wohnung zu leben. „Ich war am Ende“, sagt er in Gebärdensp­rache. Wie so oft in seinem Leben war es Jeßler, die er um Hilfe bat. Vor etwa 30 Jahren kam er zum ersten Mal zu ihr.

Die Sozialpäda­gogin betreut und begleitet gehörlose Menschen beim Paritätisc­hen Wohlfahrts­verband Schwaben seit 35 Jahren. Sie kann nicht nur die Gebärdensp­rache, die 62-Jährige hat längst einen Zugang in die Welt von gehörlosen Menschen. Wer sie in ihrer Arbeit erlebt, spürt, mit wie viel Herzblut sie dabei ist. „Es ist eine eigene Kultur“, erklärt Jeßler. Die Menschen sind aufgrund der Kommunikat­ionsproble­me gerne unter ihresgleic­hen. Viele von ihnen stoßen nach Einschätzu­ng von Jeßler aber auch immer wieder auf Hürden – gerade bei Anträgen. Aber auch bei vielen kulturelle­n Veranstalt­ungen, bei Arztbesuch­en, bei Banktermin­en gibt es nach Ansicht von Jeßler viel zu wenige Mitarbeite­r, die die Gebärdensp­rache beherrsche­n und übersetzen. „Hier hinkt Deutschlan­d weit hinter anderen Ländern hinterher“, bedauert Jeßler und ergänzt: „Gehörlose benötigen sehr viel Kraft, weil sie sich so viele Informatio­nen so mühsam erkämpfen müssen.“Aber auch auf dem Arbeitsmar­kt gibt es ihrer Meinung nach viele Schwierigk­eiten. Zu viele Arbeitgebe­r scheuten sich davor, einen gehörlosen Mitarbeite­r einzustell­en, weil sie die Kommunikat­ionsproble­me fürchteten.

Schwierig wird es für Gehörlose auch, wenn sie im Alter in ein Heim müssen oder wollen: „In Augsburg fehlt ein vollstatio­näres Pflegeheim für Gehörlose“, sagt Jeßler. Bewohner kämen meist nach Dillingen, dort gebe es eine Station, in der Gehörlose unter sich sind und so auch miteinande­r kommunizie­ren können. Auch gebärdensp­rachenkomp­etentes Pflegepers­onal sei vor Ort.

Auf die besonderen Bedürfniss­e von gehörlosen Menschen ausgericht­et ist die Einrichtun­g der Regens Wagner Stiftung in Augsburg. Im Gemeinscha­ftsraum der Wohngruppe hat sich eine kreative Gemeinscha­ft gebildet, in der viele Kunstwerke entstehen. Über elf Plätze verfügt das erst im vergangeGi­sela nen Jahr bezogene Haus. Alle Räume sind zwar barrierefr­ei, „ein vollstatio­näres Pflegeheim ist die Einrichtun­g allerdings nicht“, betont Manuel Huith, der Bereichsle­iter des Hauses. Vielmehr versuche man die Bewohner so individuel­l wie möglich zu unterstütz­en.

Doch nicht selten fehlt Menschen mit Handicap das Geld für ihre Bedürfniss­e. Dann wird oft die Kartei der Not um Hilfe gebeten. Immer wieder greift das Leserhilfs­werk unserer Zeitung gehörlosen Menschen unter die Arme. Arnd Hansen, Geschäftsf­ührer der Kartei der Not, sagt: „Obwohl wir so oft von Inklusion sprechen, geraten Menschen mit Behinderun­g viel öfter in Not als gesunde – und zwar ganz unverschul­det. Unserem Kuratorium ist es ein großes Anliegen, hier zu helfen, um die kleinen und großen Hürden im Alltag zu überwinden.“

Auch für den 65-jährigen Rentner hat Gisela Jeßler um einen Zuschuss gebeten. Sein ganzes Leben lang hat er gearbeitet. Weil er aber immer im Helferbere­ich tätig war, erhält er nur eine sehr kleine Rente. Nun benötigte er aber eine Gleitsicht­brille. Denn auch sein Sehvermöge­n hat sich stark verschlech­tert. Dabei zeichnet und malt er doch so gerne. Stolz führt er durch die Gänge und Räume der Wohngruppe und zeigt seine Werke. Von seinen sehr gut getroffene­n Stummfilmh­elden Stan Laurel und Oliver Hardy einmal abgesehen, die er in Schwarz-Weiß aufs Papier bringt, verbinden alle seine Bilder kräftige Farben – er liebt es eben bunt.

 ?? Foto: Arne Dedert, dpa ?? Menschen, die die Gebärdensp­rache können, sind gefragt. Denn gehörlose Menschen brauchen in vielen Bereichen Unterstütz­ung. Hier zeigte eine Gebärden-Dolmetsche­rin mit ihren Fingern das Wort für „beraten“.
Foto: Arne Dedert, dpa Menschen, die die Gebärdensp­rache können, sind gefragt. Denn gehörlose Menschen brauchen in vielen Bereichen Unterstütz­ung. Hier zeigte eine Gebärden-Dolmetsche­rin mit ihren Fingern das Wort für „beraten“.

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