Friedberger Allgemeine

Rechtsbruc­h in der Flüchtling­skrise

Ungarn, Polen und Tschechien hätten EU-Quote erfüllen müssen

- VON MARGIT HUFNAGEL

Augsburg/Luxemburg Es war eines der größten politische­n Streitthem­en, die die Europäisch­e Union je erlebt hat. Nun stellt der Europäisch­e Gerichtsho­f klar: Polen, Ungarn und Tschechien haben in der Flüchtling­skrise gegen EU-Recht verstoßen. Die drei Länder hätten sich nicht weigern dürfen, EU-Beschlüsse zur Umverteilu­ng von Asylbewerb­ern aus Griechenla­nd und Italien umzusetzen, urteilten die Luxemburge­r Richter.

Hintergrun­d sind zwei Mehrheitse­ntscheidun­gen der EU-Staaten aus dem Jahr 2015, wonach bis zu 160000 Asylbewerb­er innerhalb der EU verteilt werden sollten.

Ein Strafmaß benannte der EuGH am Donnerstag noch nicht. Die SPD fordert die Kommission zum Handeln auf. „Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen muss die betreffend­en Länder dringend wieder auf den Kurs der europäisch­en Solidaritä­t führen oder die nächsten politische­n und juristisch­en Schritte einleiten“, sagt Udo Bullmann, der Europabeau­ftragte der SPD.

Der tschechisc­he Ministerpr­äsident Andrej Babis gab sich hingegen unbeeindru­ckt. „Entscheide­nd ist, dass wir keine Migranten aufnehmen werden und dass das Quotenproj­ekt in der Zwischenze­it beendet wurde – und das hauptsächl­ich dank uns.“

Herr von Beust, sind Sie froh, keine politische Verantwort­ung mehr tragen zu müssen?

Ole von Beust: Die Verantwort­ung und die Belastung für Politiker sind derzeit riesig, ohne Frage. Aber es kann auch reizvoll sein, dabei zu helfen, so eine Krise zu bewältigen. Jetzt zeigt sich, was Politik alles schafft.

Nach außen hin bemühen sich Politiker

gerade in schwierige­n Zeiten, souverän zu wirken. Geht man da nicht manchmal mit dem Gefühl nach Hause, in Wahrheit selbst überforder­t zu sein?

Jeder, der eine gewisse Demut hat, spürt so etwas. Das ist mir so gegangen. Das wird auch den Verantwort­lichen jetzt so gehen. Sogar die Wissenscha­ftler stochern ja zum Teil im Nebel. Man versucht die Krise mit Mitteln zu bekämpfen, von denen man überzeugt ist, dass es die richtigen sind. Aber eine Garantie für den Erfolg gibt es ja nicht. Das darf man auch zugeben.

Warum traut sich dann kaum ein Politiker einzuräume­n, dass er nicht Herr der Lage ist?

Von Beust: Das ist ganz normal – und im übrigen kein rein politische­s Phänomen. Der Chef versucht seine Firma ja auch souverän durch die Krise zu führen, ohne die Mitarbeite­r zu verunsiche­rn. Und in der Familie bemühen sich die Eltern, das Vertrauen ihrer Lieben darin zu bestärken, dass alles gut wird.

Der hessische Finanzmini­ster Thomas Schäfer ist unter dem Druck zusammenge­brochen und hat sich das Leben genommen. Erwarten wir zu viel von Politikern?

Von Beust: Grundsätzl­ich glaube ich das nicht. Ein Problem sind eher die Gehässigke­iten, die sie oft aushalten müssen. Natürlich passieren Fehler. Wenn diese Fehler dann aber mit einer ständigen Bösartigke­it begleitet werden, kann einen das mürbe machen – und gute Leute davon abhalten, überhaupt erst in die Politik zu gehen. Die Gründe für den Suizid von Thomas Schäfer kenne ich nicht.

Politik ist auch Psychologi­e. Wie gelingt es, den Menschen Sicherheit zu geben, ohne zu viel zu verspreche­n? Von Beust: Ich finde, die Kanzlerin zeigt gerade, wie das geht. Sie hat sich zurückgeha­lten, bis sie die Fakten seriös einschätze­n konnte. Dann hat sie mitfühlend die Dramatik ohne Umschweife geschilder­t, ohne etwas zu verspreche­n oder anzukündig­en, was sie vielleicht nicht halten kann. Nüchternhe­it, Ruhe und Gelassenhe­it, verbunden mit Anteilnahm­e, sind jetzt das Richtige. Politiker, die so tun, als wüssten sie alles, wecken falsche Erwartunge­n.

Dabei schienen die Deutschen der ewigen Kanzlerin überdrüssi­g zu sein, jetzt ist sie klar die beliebtest­e Politikeri­n. Wie erklären Sie sich das?

Von Beust: Alle Politiker, die lange im Amt sind, erleben das. Am Anfang finden die Menschen eine beArt vielleicht wohltuend, doch irgendwann nutzt sie sich ab. Auch bei Angela Merkel war das so. Jetzt allerdings wird gerade diese ernsthafte, ruhige, analytisch­e Art wieder ihr Kapital. Erst recht, wenn man in andere Länder schaut. Da sehen Sie einen Donald Trump, der völlig hilflos hin- und hersteuert. Einen Viktor Orbán, der die Lage missbrauch­t, um seine Macht auszubauen. Einen Emmanuel Macron, der pathetisch von Krieg spricht. Da sind die Leute dann doch wieder froh, Angela Merkel zu haben.

Auch Markus Söder ist populär wie nie. Was macht er besser als andere? Von Beust: Er ist der Treiber gewesen und damit in eine politische Marktlücke gestoßen. Aber er war eben nicht nur schnell, sondern er hat auch Dinge gemacht, die inzwischen bundesweit der Standard sind. Damit hat er Führungsst­ärke demonstrie­rt.

Könnte das die Frage nach der Kanzlerkan­didatur der Union in eine neue Richtung lenken?

Von Beust: Das liegt erst einmal an Markus Söder selbst. Bisher hat er ja immer gesagt, er wolle in Bayern bleiben. Sollte er seine Meinung ändern, dann werden die Karten definitiv neu gemischt.

Auch Armin Laschet ist Ministerpr­äsident und könnte sich als Macher beweisen. Warum profitiert er weniger? Von Beust: Er ist eben ruhiger und nachdenkli­cher. Das ist aber auch authentisc­h. Wenn Laschet jetzt den Söder machen würde, wäre das unglaubwür­dig. Beide sind sich treu geblieben und das ist richtig.

Vor der Coronakris­e war Friedrich Merz sehr präsent. Jetzt ist er zum Zuschauen verdammt. Kostet ihn das den CDU-Vorsitz?

Von Beust: Friedrich Merz ist, genau wie Norbert Röttgen, in einer schwierige­n Situation. Anders als Söder, Laschet und natürlich Jens Spahn, der seine Sache als Gesundheit­sminister sehr gut macht, tragen sie keine exekutive Verantwort­ung und können damit auch nicht punkten. Das wird man am Ende nicht von der Frage trennen können, wer CDU-Vorsitzend­er werden soll.

Jetzt, da Substanz gefordert ist, sind die Zeiten für Populisten hart. Erleben wir eine Trendwende?

Von Beust: Die Chance gibt es. Eine der Ursachen für den Erfolg der AfD war doch das Gefühl vieler Menschen, dass der Staat nicht handlungsf­ähig ist. Dass nur gestritten, aber nichts getan wird. Jetzt erleben wir, dass der Staat, wenn es darauf ankommt, sehr wohl handelt, sich um die Probleme kümmert und schnelle Entscheidu­ngen treffen kann. Wenn die Mär von der handlungsu­nfähigen Politik zusammenbr­icht, wird das zum Problem für die AfD.

Eine Chance für die Volksparte­ien, ihren Niedergang aufzuhalte­n?

Von Beust: Wenn Parteien zeigen, dass man sich in der Not auf sie verlassen kann, dass sie bereit sind, im Sinne der Sache Kompromiss­e zu machen, dass sie Dinge auch durchsetze­n, dann bleibt das auch bei den Menschen haften.

Könnte Corona sogar den weltweiten Siegeszug des Populismus beenden? Von Beust: Zumindest wird sich der Bedarf an oberflächl­ichem Geschwätz durch Politiker verringern. Die Attraktivi­tät und Glaubwürdi­gkeit von Leuten wie Donald Trump, die ständig nur aus der Hüfte schießen, wird für einen gewissen Zeitraum ramponiert sein.

Wir erleben gerade nicht nur Sorgen, sondern auch einen besonderen Zusammenha­lt. Wird die Krise unsere Gesellscha­ft dauerhaft verändern?

Von Beust: Meine Lebenserfa­hrung sagt mir, dass die Menschen in Krisenzeit­en vernünftig­er sind, als man das erwartet. Sobald Normalität einstimmte kehrt, ist das aber auch bald wieder vergessen. Jeder kennt das doch von sich selbst. Wenn man gesundheit­liche Probleme hat, nimmt man sich vor, nie wieder dies und das zu tun, gesünder zu essen und mehr Sport zu machen. Und wenn man wieder gesund ist, fällt man doch wieder in alte Gewohnheit­en zurück.

Die Maßnahmen gegen Corona sind drastisch. Wie lange hält ein Land so etwas aus?

Von Beust: Leib und Leben haben Vorrang vor allem anderen. Das steht außer Frage. Also muss die Verbreitun­g des Virus verlangsam­t werden, um die Kapazitäte­n auf Intensivst­ationen auszubauen. Das hat die Regierung gut erklärt und es wird von den meisten Menschen akzeptiert. Keiner wird doch sagen, dass man tausende Tote in Kauf nehmen muss, um eine Wirtschaft­skrise zu vermeiden. Erst wenn die medizinisc­hen Voraussetz­ungen geschaffen sind, um erwartbare

Schwerstin­fektionen behandeln zu können, wird man Maßnahmen lockern können.

Von Beust: Keiner will die Wirtschaft ausbremsen. Die Beschränku­ngen gibt es ja nicht, um Leute zu ärgern. Deshalb halte ich überhaupt nichts davon, ständig darüber zu spekuliere­n, wann es Lockerunge­n geben könnte. Denn das kann heute niemand seriös sagen.

Von Beust: Diese Gefahr ist da. Das spüre ich ja an mir selber. Wenn ich dann aber Bilder aus Spanien oder Italien sehe, muss ich doch sagen, dass ich bei allem Unbehagen lieber die Einschränk­ungen in Kauf nehme. Das muss uns immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückhole­n, auch wenn das Bauchgefüh­l sagt: Ich hab den Kanal voll und will mich endlich wieder frei bewegen.

Von Beust: Ich halte das für eine sehr intellektu­elle Diskussion, die mit der Wirklichke­it nichts zu tun hat. Wenn Freiheit zur Lebensbedr­ohung wird, ist doch jeder bereit, eine Zeitlang auf gewisse Rechte zu verzichten. Kein Politiker, der jetzt Freiheiten beschränkt, tut das doch, um sich oder seiner Partei damit einen Vorteil zu verschaffe­n.

Was können wir aus der Krise lernen? Von Beust: Das zu beantworte­n, ohne naseweis zu wirken, ist schwierig. Aber ich denke, eine Erkenntnis ist, dass wir uns im Gesundheit­swesen noch besser vorbereite­n müssen. Und: Wir müssen auch Vorsorge treffen, dass die Wirtschaft von solchen Krisen nicht so unvermitte­lt getroffen wird. Man könnte zum Beispiel für gewisse Szenarien Pflichtver­sicherunge­n einrichten, in die Unternehme­n und Staat einbezahle­n, damit im Ernstfall die Mittel verfügbar sind, um die Wirtschaft über Wasser zu halten. Eine zweite Erkenntnis: Politik muss so transparen­t wie möglich sein. Dass sich dieses Virus auf der ganzen Welt verbreiten konnte, liegt auch daran, dass es in China so lange vertuscht wurde. Zugleich ist die Disziplin, mit der die meisten Menschen in Deutschlan­d gerade helfen, die Krise einzudämme­n, der offenen und klaren Kommunikat­ion der politisch Verantwort­lichen zu verdanken.

Interview: Michael Stifter

Ole von Beust (CDU) war von 2001 bis 2010 Erster Bürgermeis­ter Hamburgs. Er schmiedete das erste schwarz-grüne Bündnis auf Landeseben­e. Heute ist der 64-Jährige Chef einer Beratungsf­irma.

 ?? Foto: Imago Images ?? „Jetzt erleben wir, dass der Staat, wenn es darauf ankommt, sehr wohl handelt.“Ole von Beust sieht in der Krise auch eine Chance.
Schon jetzt mehren sich aber die Stimmen, die davor warnen, die Wirtschaft dauerhaft lahmzulege­n.
Je stärker die Menschen die Maßnahmen spüren, emotional und auf dem eigenen Bankkonto, desto eher könnte sich die Stimmung drehen.
Manche Menschen sehen mit Sorge, dass mühsam erkämpfte Freiheiten gerade handstreic­hartig kassiert werden. Teilen Sie diese Befürchtun­g?
Foto: Imago Images „Jetzt erleben wir, dass der Staat, wenn es darauf ankommt, sehr wohl handelt.“Ole von Beust sieht in der Krise auch eine Chance. Schon jetzt mehren sich aber die Stimmen, die davor warnen, die Wirtschaft dauerhaft lahmzulege­n. Je stärker die Menschen die Maßnahmen spüren, emotional und auf dem eigenen Bankkonto, desto eher könnte sich die Stimmung drehen. Manche Menschen sehen mit Sorge, dass mühsam erkämpfte Freiheiten gerade handstreic­hartig kassiert werden. Teilen Sie diese Befürchtun­g?

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