Friedberger Allgemeine

„Einigt euch und ihr seid frei“

Sie ist gerade Corona-bedingt in aller Munde – die Solidaritä­t. Bertolt Brecht widmete ihr eines seiner berühmtest­en Lieder. Aber war er tatsächlic­h immer der Meinung, sich einfach ins Kollektiv einzureihe­n?

- VON JÜRGEN HILLESHEIM

Solidaritä­t – ein Begriff, der in Zeiten von Corona Hochkonjun­ktur hat. Er wird fast von jedermann benutzt und changiert bisweilen zwischen inflationä­r gewordener Worthülse und einer Art von Kampfbegri­ff. Wer schon möchte sich heute das vernichten­de Verdikt einhandeln, sich „unsolidari­sch“zu verhalten? Was kann es Schlimmere­s geben, als derart stigmatisi­ert zu werden? Das Ethische, Moralische schlechthi­n scheint sich in der Solidaritä­t zu verdichten, zu verabsolut­ieren. Angeprange­rt wird der „Unsolidari­sche“, gegebenenf­alls auch denunziert, verpfiffen – so entsteht ein Instrument sozialer Kontrolle.

Ursprüngli­ch oft als Synonym für Verantwort­lichkeit dem anderen gegenüber innerhalb einer Gruppe von Menschen gleicher Ideale verwendet, avancierte der Begriff zunehmend zu einem des Klassenkam­pfes; selbst wenn er heute, in Zeiten der Krise, eine Art Bedeutungs­erweiterun­g oder -beliebigke­it erfahren mag.

Bertolt Brecht schrieb mit seinem Solidaritä­tslied eines der bekanntest­en Massen- und Arbeiterli­eder überhaupt. Es entstand 1931, Varianten folgten bis 1950. Nur die Moritat von Mackie Messer aus der Dreigrosch­enoper ist unter seinen Liedern weltweit präsenter, in noch mehr Sprachen übersetzt. Anlass genug, die Frage zu stellen, wie Brecht es mit der Solidaritä­t hielt.

Das Solidaritä­tslied schrieb er für den proletaris­chen Film „Kuhle Wampe“(1932). Es gibt keine Zweifel: Mit diesem Marschlied, dessen Vertonung von Hanns Eisler stammt, wird kommunisti­sche Propaganda betrieben, selbst wenn mit „Vorwärts“zunächst an die Tradition der SPD angeknüpft wird.

Diese erste Strophe zeichnet sich aus durch ihre Nähe zur „Internatio­nalen“, dem bekanntest­en Kampflied der Arbeiterbe­wegung, das von 1922 bis 1944 Nationalhy­mne der Sowjetunio­n war. Mit „Wacht auf, Verdammte dieser Erde“hebt es an. Brecht sucht bewusst diesen Hintergrun­d und führt ihn fort. „Schwarze, Braune, Gelbe“sollen zu einer Völkergeme­inschaft verschmelz­en, die die Diktatur des Proletaria­ts erlange. Dies kann nur gelingen, wenn Solidaritä­t geübt werde, sie ist die Basis für den Zusammenha­lt der Arbeiter, der Vermassung, wie der Refrain einzuhämme­rn versucht. Dem Einzelnen bleibt nur sich einzureihe­n, sich als Individuum selbst abzuschaff­en.

Die letzte Strophe der Variante von 1950 zitiert dann explizit das Manifest der kommunisti­schen Partei von Marx und Engels:

Proletarie­r aller Länder Einigt euch und ihr seid frei.

Weitere Einzelheit­en, die noch deutlicher auf den kommunisti­schen Hintergrun­d wiesen, fielen, wie die Forschung weiß, 1931 der Zensur zum Opfer. Der Text ist bar jeglicher Mehrschich­tigkeit oder Ambivalenz, wie sie sonst für Werke Brechts typisch sind. Wer geneigt ist, ihn nach wie vor zum marxistisc­hen Säulenheil­igen zu erklären, der hat mit dem Solidaritä­tslied ein schlagende­s Argument.

Betrachtet man das Gesamtwerk Brechts, ergibt sich ein differenzi­erteres Bild. Mit Vermassung, der Abschaffun­g des Einzelnen zugunsten eines Kollektivs, hatte er es nicht; auch nicht nach seiner angebliche­n Hinwendung zum Kommunismu­s. So heißt es schon in seiner Antikriegs­und Antirevolu­tionskomöd­ie „Trommeln in der Nacht“1919 explizit: Die Soldaten „haben nichts gelernt als ihre Solidaritä­t, diese ist es, die sie vernichtet.“Sich als Individuum dem Wahn zu verweigern, wäre die bessere Option gewesen. 1920 „graute“es Brecht vor dem „Bolschewis­mus“der Sowjetunio­n, in der „Dienstpfli­cht, Kontrolle, Uniformier­ung und Günstlings­wirtschaft“herrsche. Wer sich dem entzieht, ist geliefert.

Im zeitnah zum Solidaritä­tslied entstanden­en „Fragment Fatzer“kokettiert ein durch den Krieg verbogener Charakter mit seinem unsolidari­schen Verhalten, woraufhin ihn sein kommunisti­scher Widerpart liquidiere­n will. Und: Kann man im Solidaritä­tslied noch ein lyrisches Wir, eine Art „Uns“unterstell­en, das sich mit der Masse identifizi­ert, so beobachtet im 1934 entstanden­en Einheitsfr­ontlied ein lyriWeiße, sches Ich von Weitem die tumb vorbeimars­chierende kommunisti­sche Masse und denkt im Traum nicht daran, sich einzureihe­n. Es weiß, dass das Marschiere­n keines geradeaus in eine gute sozialisti­sche Zukunft ist, sondern eines im Kreise, geradewegs zur Schlachtba­nk.

Wie erklärt sich aber dann das Solidaritä­tslied? Brecht schrieb es für den Film, weil er an diesem Projekt teilhaben, als Künstler in der Weimarer Republik weiter präsent sein wollte. Dem in Aussicht stehenden Erfolg die Gesinnung anzupassen, war Brecht seit jeher nicht fremd, und das sollte auch so bleiben. So schrieb er zum Beispiel 1950 mehr oder weniger unwillig eine Reihe von Kinderlied­ern, weil die Regierung der DDR, die ihm ein eigenes Theaterens­emble zur Verfügung gestellt hatte, danach verlangte. Die Masse, die „Solidaritä­t“blieb ihm fremd. Da hielt er es bis zuletzt mehr mit Andreas Kragler, dem Protagonis­ten aus „Trommeln in der Nacht“, der sich „unsolidari­sch“weigert, die Waffe, die ihm die Revolution­äre in die Hand drücken wollen, anzunehmen und so seinen Beitrag zum Weltfriede­n leistet.

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