Die Eintracht bröckelt
Bislang halten die Parteien unter dem Druck der Corona-Epidemie zusammen. Doch es gärt unter der Oberfläche und es könnte noch schlimmer werden
Kanzlerin Angela Merkel musste gebeten werden. Ihre Regierungserklärung kam erst auf Druck der CDU/ CSU-Fraktion zustande, wird berichtet. Schließlich ist es die eine Sache, wenn die Abgeordneten unter sich tagen. Viel bedeutsamer wird die Angelegenheit, wenn die Chefin im Bundestag spricht. In Corona-Zeiten sollte so das Signal nach außen gesendet werden, dass das Parlament arbeitsfähig ist. Vielen Abgeordneten war das sehr wichtig, denn sie fühlen sich gerade zu Recht vom Kanzleramt übergangen. Bisher hat die Bedrohung durch das Corona-Virus der Bundespolitik eine Art Stillhalteabkommen aufgezwungen. Doch die Eintracht bekommt immer mehr Risse und bröckelt.
Mit jedem Tag, mit dem der Infektionsverlauf weniger schrecklich erscheint als befürchtet, steigt im Parlament das Bedürfnis nach Debatte und Mitspracherecht. Alle Entscheidungen im Zusammenhang mit der Corona-Epidemie wurden zunächst von Merkel und ihrem Kabinett getroffen. Erst anschließend wurden die Parlamentarier um Zustimmung gebeten. Die Abgeordneten nahmen das hin, doch der Zweck heiligt die Mittel nicht ewig.
Dabei geht es noch nicht einmal vorrangig um die Corona-Maßnahmen an sich. Abgeordnete wie FDP-Chef Christian Lindner stören sich vielmehr und sehr zu Recht daran, dass von der Regierungslinie abweichende Meinungen sofort als falsch gebrandmarkt und zur Seite gewischt werden. Eine Debatte, wie sie die Verfassung ausdrücklich fordert, wird so bereits im Ansatz abgewürgt. Dabei betont Merkel jeden Tag selbst, dass es für die Krise keine Blaupause gibt. Umso wichtiger wäre es, auf den Rat der anderen Parteien zu hören anstatt nur auf die Virologen, die sich offenbar untereinander auch nicht einig sind.
Die Unzufriedenheit macht vor Schwarz-Rot nicht halt. Union und SPD beobachten jeweils argwöhnisch, mit welchen Vorschlägen die andere Seite im Anti-Corona-Kampf nun schon wieder kommt. Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass das Virus auch Vorwand ist, um lang gehegte Wünsche durchzusetzen, die es schon vor Corona gab. Ein Beispiel ist die Senkung
der Mehrwertsteuer auf Speisen. Dafür trommelt der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband schon seit vielen Jahren und hat nun im Schatten der Krise sein Ansinnen erst einmal durchgesetzt. Während das aufs Konto der CSU ging, konnte die SPD die Stärkung des Kurzarbeitergeldes für sich verbuchen.
Gleichzeitig ist Roten wie Schwarzen klar, dass die Republik nicht ewig neue Kredite aufnehmen kann, um die Corona-Schäden auszugleichen. In die aktuelle Debatte müssten deshalb schon jetzt Überlegungen gehören, wie viel Geld man noch in die Hand nehmen will und wer es bekommen soll.
Dass Merkel, sekundiert von ihren Ministern, diese Debatte abwürgt, hat bislang noch keinen offenen Streit nach sich gezogen. Aber die Gemüter sind erhitzt und die nächsten Tage halten viel Zündstoff bereit, um sie zum Kochen zu bringen. Da ist etwa das nächste Treffen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten am Donnerstag. Darunter sind Politiker wie der Nordrhein-Westfale Armin Laschet, der sich offenbar großzügigere Lockerungen vorstellen kann als seine Parteifreundin Merkel. Wenn es da nicht schon knallt, fliegt der Deckel im Juni, spätestens im Juli ganz vom Topf. Dann nämlich laufen die auf nur drei Monate angelegten Hilfsprogramme aus und es geht an die unbequemen Wahrheiten. Es wäre gut, wenn Merkel und ihre Gefolgsleute bis dahin einen Kitt finden, der die Parteien zusammenhält.
Gerade weil es keine Blaupause gibt, braucht es Debatten